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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Rechtsphilosophische Phantasien eines Laien

von jedem akademisch Gebildeten muß wenigstens ein allgemeiner Überblick über
dieses Gebiet verlangt werden. Auf den Hochschulen sind auch die Lehrkräfte
vorhanden, die einer solchen Aufgabe zu genügen imstande sind. Kurze histo¬
rische Entwicklung der bestehenden Einrichtungen, ihre Bedeutung und ihre
Zwecke, Vergleich mit den entsprechenden Einrichtungen andrer Staaten würden
den Stoff auch anziehend machen können. Wer ein Amt bekleiden will im
Staate, muß mit den Einrichtungen dieses Staates auch im allgemeinen ver¬
traut sein und nicht nur in seinem besondern Fach Bescheid wissen.


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Haben wir das Strafgesetz als den festen Niederschlag des allgemeinen
Volksgewisfens zu betrachten, so spiegelt es doch vorwiegend die moralischen An¬
schauungen der Kreise wieder, die auf seine Abfassung einen maßgebenden Einfluß
ausgeübt haben. Man kann vor dem gebildeten Mittelstande -- der Bour¬
geoisie -- allen Respekt haben, aber doch meinen, daß seine Qualifikation
zum Regieren nicht ausreicht, namentlich nicht zum Alleinregieren. Der Mittel¬
stand soll verdienen, Geschäfte treiben und in der Förderung aller Kultur-
aufgabeu seine höchste Blüte finden, aber was daraus wird, wenn er aus¬
schließlich auch die Regierungsgeschäfte in die Hand nimmt, das können wir
in Frankreich und den Vereinigten Staaten sehen. Was Mephisto und Faust
vom Genießen und Regieren urteilen, das gilt auch vom Verdienen und Regieren.
Die Gefahr ist nicht zu unterschätzen, daß das Verdienenwollen auch einen
Einfluß auf das Regieren ausübt. Die ftaatsklugen und praktischen Venetianer
wußten, was sie thaten, als sie ihre aus dem Handelsstande hervorgehenden
Dogen nötigten, vor dem Antritt ihres Amtes zu liauidiren.

Auch bei uns ist ein materialistischer Zug bei der Festsetzung der Strafen in
dem Verhältnis der Bestrafung von Eigentumsverletzungen und Ehrverletzungen
nicht zu verkennen. Nach großen Gefahren und erfolgreichen Anstrengungen
scheint zeitweise eine Hinneigung zum Materialismus ziemlich regelmäßig zu
folgen: bei den Holländern nach ihrem Unabhängigkeitskriege, in Frankreich
nach dem Schlüsse der Revolution, in Preußen nach dem siebenjährigen Kriege,
und im Deutschen Reiche nach 1871. Der kürzlich ergangne Erlaß des Justiz¬
ministers erkennt doch an, daß Beleidigungen bisher häufig nicht die ent¬
sprechende Strafe gefunden haben. Durch das Strafgesetz ist ganz zweifellos
das Eigentum besser geschützt als die Ehre von Leuten, die darauf Wert
legen -- ein Zeichen für die Schätzung dieser Dinge durch die Verfasser des
Gesetzes.

Ist aber der Schutz, den der Staat gewährt, nicht ausreichend,^) so tritt



Was ist eine Geldstrafe in solchen Füllen für den, der es dazu har, im Vergleich mit
dem Übel, dus er andern zugefügt hat!
Grenzboten III 18S8 3
Rechtsphilosophische Phantasien eines Laien

von jedem akademisch Gebildeten muß wenigstens ein allgemeiner Überblick über
dieses Gebiet verlangt werden. Auf den Hochschulen sind auch die Lehrkräfte
vorhanden, die einer solchen Aufgabe zu genügen imstande sind. Kurze histo¬
rische Entwicklung der bestehenden Einrichtungen, ihre Bedeutung und ihre
Zwecke, Vergleich mit den entsprechenden Einrichtungen andrer Staaten würden
den Stoff auch anziehend machen können. Wer ein Amt bekleiden will im
Staate, muß mit den Einrichtungen dieses Staates auch im allgemeinen ver¬
traut sein und nicht nur in seinem besondern Fach Bescheid wissen.


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Haben wir das Strafgesetz als den festen Niederschlag des allgemeinen
Volksgewisfens zu betrachten, so spiegelt es doch vorwiegend die moralischen An¬
schauungen der Kreise wieder, die auf seine Abfassung einen maßgebenden Einfluß
ausgeübt haben. Man kann vor dem gebildeten Mittelstande — der Bour¬
geoisie — allen Respekt haben, aber doch meinen, daß seine Qualifikation
zum Regieren nicht ausreicht, namentlich nicht zum Alleinregieren. Der Mittel¬
stand soll verdienen, Geschäfte treiben und in der Förderung aller Kultur-
aufgabeu seine höchste Blüte finden, aber was daraus wird, wenn er aus¬
schließlich auch die Regierungsgeschäfte in die Hand nimmt, das können wir
in Frankreich und den Vereinigten Staaten sehen. Was Mephisto und Faust
vom Genießen und Regieren urteilen, das gilt auch vom Verdienen und Regieren.
Die Gefahr ist nicht zu unterschätzen, daß das Verdienenwollen auch einen
Einfluß auf das Regieren ausübt. Die ftaatsklugen und praktischen Venetianer
wußten, was sie thaten, als sie ihre aus dem Handelsstande hervorgehenden
Dogen nötigten, vor dem Antritt ihres Amtes zu liauidiren.

Auch bei uns ist ein materialistischer Zug bei der Festsetzung der Strafen in
dem Verhältnis der Bestrafung von Eigentumsverletzungen und Ehrverletzungen
nicht zu verkennen. Nach großen Gefahren und erfolgreichen Anstrengungen
scheint zeitweise eine Hinneigung zum Materialismus ziemlich regelmäßig zu
folgen: bei den Holländern nach ihrem Unabhängigkeitskriege, in Frankreich
nach dem Schlüsse der Revolution, in Preußen nach dem siebenjährigen Kriege,
und im Deutschen Reiche nach 1871. Der kürzlich ergangne Erlaß des Justiz¬
ministers erkennt doch an, daß Beleidigungen bisher häufig nicht die ent¬
sprechende Strafe gefunden haben. Durch das Strafgesetz ist ganz zweifellos
das Eigentum besser geschützt als die Ehre von Leuten, die darauf Wert
legen — ein Zeichen für die Schätzung dieser Dinge durch die Verfasser des
Gesetzes.

Ist aber der Schutz, den der Staat gewährt, nicht ausreichend,^) so tritt



Was ist eine Geldstrafe in solchen Füllen für den, der es dazu har, im Vergleich mit
dem Übel, dus er andern zugefügt hat!
Grenzboten III 18S8 3
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[0025] Rechtsphilosophische Phantasien eines Laien von jedem akademisch Gebildeten muß wenigstens ein allgemeiner Überblick über dieses Gebiet verlangt werden. Auf den Hochschulen sind auch die Lehrkräfte vorhanden, die einer solchen Aufgabe zu genügen imstande sind. Kurze histo¬ rische Entwicklung der bestehenden Einrichtungen, ihre Bedeutung und ihre Zwecke, Vergleich mit den entsprechenden Einrichtungen andrer Staaten würden den Stoff auch anziehend machen können. Wer ein Amt bekleiden will im Staate, muß mit den Einrichtungen dieses Staates auch im allgemeinen ver¬ traut sein und nicht nur in seinem besondern Fach Bescheid wissen. 4 Haben wir das Strafgesetz als den festen Niederschlag des allgemeinen Volksgewisfens zu betrachten, so spiegelt es doch vorwiegend die moralischen An¬ schauungen der Kreise wieder, die auf seine Abfassung einen maßgebenden Einfluß ausgeübt haben. Man kann vor dem gebildeten Mittelstande — der Bour¬ geoisie — allen Respekt haben, aber doch meinen, daß seine Qualifikation zum Regieren nicht ausreicht, namentlich nicht zum Alleinregieren. Der Mittel¬ stand soll verdienen, Geschäfte treiben und in der Förderung aller Kultur- aufgabeu seine höchste Blüte finden, aber was daraus wird, wenn er aus¬ schließlich auch die Regierungsgeschäfte in die Hand nimmt, das können wir in Frankreich und den Vereinigten Staaten sehen. Was Mephisto und Faust vom Genießen und Regieren urteilen, das gilt auch vom Verdienen und Regieren. Die Gefahr ist nicht zu unterschätzen, daß das Verdienenwollen auch einen Einfluß auf das Regieren ausübt. Die ftaatsklugen und praktischen Venetianer wußten, was sie thaten, als sie ihre aus dem Handelsstande hervorgehenden Dogen nötigten, vor dem Antritt ihres Amtes zu liauidiren. Auch bei uns ist ein materialistischer Zug bei der Festsetzung der Strafen in dem Verhältnis der Bestrafung von Eigentumsverletzungen und Ehrverletzungen nicht zu verkennen. Nach großen Gefahren und erfolgreichen Anstrengungen scheint zeitweise eine Hinneigung zum Materialismus ziemlich regelmäßig zu folgen: bei den Holländern nach ihrem Unabhängigkeitskriege, in Frankreich nach dem Schlüsse der Revolution, in Preußen nach dem siebenjährigen Kriege, und im Deutschen Reiche nach 1871. Der kürzlich ergangne Erlaß des Justiz¬ ministers erkennt doch an, daß Beleidigungen bisher häufig nicht die ent¬ sprechende Strafe gefunden haben. Durch das Strafgesetz ist ganz zweifellos das Eigentum besser geschützt als die Ehre von Leuten, die darauf Wert legen — ein Zeichen für die Schätzung dieser Dinge durch die Verfasser des Gesetzes. Ist aber der Schutz, den der Staat gewährt, nicht ausreichend,^) so tritt Was ist eine Geldstrafe in solchen Füllen für den, der es dazu har, im Vergleich mit dem Übel, dus er andern zugefügt hat! Grenzboten III 18S8 3

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/25>, abgerufen am 29.04.2024.