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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche
v Carl Jeiltsch on(Schluß)
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M'>c?)n seinen jüngern Jahren, wo sich sein Widerwille gegen manche
gegenwärtigen Erscheinungsformen des Christentums noch nicht in
den Haß gegen das Christentum selbst verirrt hatte, sah Nietzsche
wohl im Christentum den endgiltigen Durchbruch des Dionysischen
in der Weltgeschichte und im Johannesevangelium seine schönste
Blüte, in Homer, Sophokles, Johannes die drei Stufen dionysischer Heiterkeit,
worin die doppelte Wahrheit liegt, daß die griechischen Mysterien eine Vorstufe
und Vorahnung der echten, der christlichen Mystik gewesen sind, und daß das
Johannesevangelium ganz hellenisch ist; in welchem Grade, das genau dar¬
zustellen wäre ein dankbares, aber in unsrer Zeit nicht ungefährliches Unter¬
nehmen. Überhaupt deckt Nietzsche auch in solchen Stellen wichtige Wahr¬
heiten und Probleme auf, wo ihn sein Vorurteil zu den ungeheuerlichsten
Übertreibungen hinreißt, z. B. in seinen Vergleichungen des Neuen Testaments
mit dem Alten. Während er diesem gerecht wird und seine Größe anerkenn:,
findet er jenes kleinlich, unbedeutend und wittert überall darin den Geruch
armer Leute, verkümmerter Provinzler. Diesem Vorurteil liegt die Thatsache
zu Grunde, daß dem Neuen Testament bei weitem nicht die Zugkraft inne-
wohnt wie dem Alten. Die Prediger täuschen sich, die von der Kraft des
göttlichen Wortes und von dem überwältigenden Eindruck der Gestalt des
Erlösers so schön zu reden wissen; einer spricht das dem andern nach und
versucht dann wohl auch zu empfinden, was ihm vorgesprochen wird. Wenn
Schüler, über die der Religionslehrer Zwangsgewalt hat, beim Lesen des
Neuen Testaments andächtige Gesichter machen, so beweist das gar nichts. Die
ganze Bibel ist freilich ein zu dickes Buch, als daß sie Leute aus dem Volke
nicht abschrecken sollte. Aber man zerlege das Alte Testament in seine einzelnen
Bestandteile und verleite diese kleinen Büchlein zusammen mit dem Neuen
Testament, so wird man die Erfahrung machen, daß manches von den alt-
testamentlichen Büchern ziemlich häufig, das Neue Testament sehr wenig ge¬
lesen wird. Nicht kleinlich ist das Neue Testament, aber fein und geistig,


Grenzboten III 1898 88


Friedrich Nietzsche
v Carl Jeiltsch on(Schluß)
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M'>c?)n seinen jüngern Jahren, wo sich sein Widerwille gegen manche
gegenwärtigen Erscheinungsformen des Christentums noch nicht in
den Haß gegen das Christentum selbst verirrt hatte, sah Nietzsche
wohl im Christentum den endgiltigen Durchbruch des Dionysischen
in der Weltgeschichte und im Johannesevangelium seine schönste
Blüte, in Homer, Sophokles, Johannes die drei Stufen dionysischer Heiterkeit,
worin die doppelte Wahrheit liegt, daß die griechischen Mysterien eine Vorstufe
und Vorahnung der echten, der christlichen Mystik gewesen sind, und daß das
Johannesevangelium ganz hellenisch ist; in welchem Grade, das genau dar¬
zustellen wäre ein dankbares, aber in unsrer Zeit nicht ungefährliches Unter¬
nehmen. Überhaupt deckt Nietzsche auch in solchen Stellen wichtige Wahr¬
heiten und Probleme auf, wo ihn sein Vorurteil zu den ungeheuerlichsten
Übertreibungen hinreißt, z. B. in seinen Vergleichungen des Neuen Testaments
mit dem Alten. Während er diesem gerecht wird und seine Größe anerkenn:,
findet er jenes kleinlich, unbedeutend und wittert überall darin den Geruch
armer Leute, verkümmerter Provinzler. Diesem Vorurteil liegt die Thatsache
zu Grunde, daß dem Neuen Testament bei weitem nicht die Zugkraft inne-
wohnt wie dem Alten. Die Prediger täuschen sich, die von der Kraft des
göttlichen Wortes und von dem überwältigenden Eindruck der Gestalt des
Erlösers so schön zu reden wissen; einer spricht das dem andern nach und
versucht dann wohl auch zu empfinden, was ihm vorgesprochen wird. Wenn
Schüler, über die der Religionslehrer Zwangsgewalt hat, beim Lesen des
Neuen Testaments andächtige Gesichter machen, so beweist das gar nichts. Die
ganze Bibel ist freilich ein zu dickes Buch, als daß sie Leute aus dem Volke
nicht abschrecken sollte. Aber man zerlege das Alte Testament in seine einzelnen
Bestandteile und verleite diese kleinen Büchlein zusammen mit dem Neuen
Testament, so wird man die Erfahrung machen, daß manches von den alt-
testamentlichen Büchern ziemlich häufig, das Neue Testament sehr wenig ge¬
lesen wird. Nicht kleinlich ist das Neue Testament, aber fein und geistig,


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[0305] [Abbildung] Friedrich Nietzsche v Carl Jeiltsch on(Schluß) 6 ^X? -^SWt i?/ V??«'> M^.s M'>c?)n seinen jüngern Jahren, wo sich sein Widerwille gegen manche gegenwärtigen Erscheinungsformen des Christentums noch nicht in den Haß gegen das Christentum selbst verirrt hatte, sah Nietzsche wohl im Christentum den endgiltigen Durchbruch des Dionysischen in der Weltgeschichte und im Johannesevangelium seine schönste Blüte, in Homer, Sophokles, Johannes die drei Stufen dionysischer Heiterkeit, worin die doppelte Wahrheit liegt, daß die griechischen Mysterien eine Vorstufe und Vorahnung der echten, der christlichen Mystik gewesen sind, und daß das Johannesevangelium ganz hellenisch ist; in welchem Grade, das genau dar¬ zustellen wäre ein dankbares, aber in unsrer Zeit nicht ungefährliches Unter¬ nehmen. Überhaupt deckt Nietzsche auch in solchen Stellen wichtige Wahr¬ heiten und Probleme auf, wo ihn sein Vorurteil zu den ungeheuerlichsten Übertreibungen hinreißt, z. B. in seinen Vergleichungen des Neuen Testaments mit dem Alten. Während er diesem gerecht wird und seine Größe anerkenn:, findet er jenes kleinlich, unbedeutend und wittert überall darin den Geruch armer Leute, verkümmerter Provinzler. Diesem Vorurteil liegt die Thatsache zu Grunde, daß dem Neuen Testament bei weitem nicht die Zugkraft inne- wohnt wie dem Alten. Die Prediger täuschen sich, die von der Kraft des göttlichen Wortes und von dem überwältigenden Eindruck der Gestalt des Erlösers so schön zu reden wissen; einer spricht das dem andern nach und versucht dann wohl auch zu empfinden, was ihm vorgesprochen wird. Wenn Schüler, über die der Religionslehrer Zwangsgewalt hat, beim Lesen des Neuen Testaments andächtige Gesichter machen, so beweist das gar nichts. Die ganze Bibel ist freilich ein zu dickes Buch, als daß sie Leute aus dem Volke nicht abschrecken sollte. Aber man zerlege das Alte Testament in seine einzelnen Bestandteile und verleite diese kleinen Büchlein zusammen mit dem Neuen Testament, so wird man die Erfahrung machen, daß manches von den alt- testamentlichen Büchern ziemlich häufig, das Neue Testament sehr wenig ge¬ lesen wird. Nicht kleinlich ist das Neue Testament, aber fein und geistig, Grenzboten III 1898 88

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/305>, abgerufen am 29.04.2024.