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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Gedichte Michelangelos

derart überzeugend, daß sie uns nötigen, als ihre Veranlassung wirkliche
Herzensneigungen vorauszusetzen. Erst vom Jahre 1532 an begegnet uns ein
geliebter Gegenstand, eine Persönlichkeit, der seine schwärmerische Leidenschaft
gilt, ein Name -- es ist der Name eines Jünglings. Von nun an haben wir
festen Grund unter den Füßen. Zeugnisse von Zeitgenossen und Briefe Michel¬
angelos selbst kommen uns zu Hilfe, die Herzenszustände näher kennen zu
lernen, aus denen in den nächsten anderthalb Jahrzehnten eine reiche Lyrik
quillt. Diese bildet sich jetzt zu der Vollkommenheit aus, die ihr überhaupt
zu erreichen möglich ist, und sie erfüllt sich mit einem Kreise eigentümlicher
Vorstellungen, deren Verwandtschaft mit platonischen Ideen schon von den Zeit¬
genossen erkannt worden ist.


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Ist diese Zusammenstellung von Michelangelos Lyrik mit der Lehre
Platons, die Herkunft seiner Vorstellungen aus dem Phädros und dem Sym¬
posion überhaupt berechtigt? Der neuste Erklärer bestreitet es. "Michel¬
angelos Platonismus war der landläufige und unterschied sich kaum von dem
Dantes und Petrarcas." Fast zu jedem Gedicht weiß Frey irgend eine
Parallelstelle beizubringen aus Dante, Petrarca oder auch aus den Gedichten
Polizicms und des Lorenzo Magnifico. Auch diese Nachweise sind ein Ver¬
dienst des Herausgebers. Die Beurteiler der Kirns Michelangelos haben sich
bisher zu wenig bemüht, sie in ihren litteraturgeschichtlichen Zusammenhang
zu bringen. Es ist unzweifelhaft, daß Michelangelo, wie alle zeitgenössischen
Lyriker, als Nachahmer Petrarcas begonnen hat und zeitlebens in dessen
Spuren geblieben ist. Noch mehr hatte er sür Dante eine außerordentliche
Verehrung, er kannte ihn fast auswendig, er befruchtete seine Phantasie an
dem gewaltigen Bilderreichtum seines großen Landsmanns, vielmehr es war
in ihm eine ebenbürtige Kraft der Bilderschöpfung, der Personifikation, der
Belebung abstrakter Begriffe. Aber dem Dichter der Göttlichen Komödie war
er verwandter als dem der vitA nuovg,. In seiner Lyrik bricht trotz aller An¬
klänge und Entlehnungen ein eigner Geist durch, er hebt sich ab von dem
Troß der Nachahmer. Eben das wollten die Zeitgenossen sagen, wenn sie,
wie Varchi, in der Übereinstimmung mit dem Symposion ein besondres Merkmal
seiner Dichtungen sahen. Auch der Dichter Francesco Berni urteilte, er sei
kein Kenner, aber er meine, die Gedichte Michelangelos alle schon im Platon
gelesen zu haben, und damit stimmt das Zeugnis des Schülers und Bio¬
graphen Condivi: "Oft habe ich Michelangelo hören von Liebe reden und
nachher von andern vernommen, daß, was er darüber sagte, ganz ebenso laute,
wie man im Platon darüber geschrieben findet."

Eine Überlieferung aus platonischen Lehren war schon in die ältere ita¬
lienische Lyrik eingesintert. Die von den Provenzalen überkommne Kunst war
dadurch noch mehr in der Richtung ausgebildet worden, daß man die Geliebte


Grenzboten III 18"8 58
Die Gedichte Michelangelos

derart überzeugend, daß sie uns nötigen, als ihre Veranlassung wirkliche
Herzensneigungen vorauszusetzen. Erst vom Jahre 1532 an begegnet uns ein
geliebter Gegenstand, eine Persönlichkeit, der seine schwärmerische Leidenschaft
gilt, ein Name — es ist der Name eines Jünglings. Von nun an haben wir
festen Grund unter den Füßen. Zeugnisse von Zeitgenossen und Briefe Michel¬
angelos selbst kommen uns zu Hilfe, die Herzenszustände näher kennen zu
lernen, aus denen in den nächsten anderthalb Jahrzehnten eine reiche Lyrik
quillt. Diese bildet sich jetzt zu der Vollkommenheit aus, die ihr überhaupt
zu erreichen möglich ist, und sie erfüllt sich mit einem Kreise eigentümlicher
Vorstellungen, deren Verwandtschaft mit platonischen Ideen schon von den Zeit¬
genossen erkannt worden ist.


3

Ist diese Zusammenstellung von Michelangelos Lyrik mit der Lehre
Platons, die Herkunft seiner Vorstellungen aus dem Phädros und dem Sym¬
posion überhaupt berechtigt? Der neuste Erklärer bestreitet es. „Michel¬
angelos Platonismus war der landläufige und unterschied sich kaum von dem
Dantes und Petrarcas." Fast zu jedem Gedicht weiß Frey irgend eine
Parallelstelle beizubringen aus Dante, Petrarca oder auch aus den Gedichten
Polizicms und des Lorenzo Magnifico. Auch diese Nachweise sind ein Ver¬
dienst des Herausgebers. Die Beurteiler der Kirns Michelangelos haben sich
bisher zu wenig bemüht, sie in ihren litteraturgeschichtlichen Zusammenhang
zu bringen. Es ist unzweifelhaft, daß Michelangelo, wie alle zeitgenössischen
Lyriker, als Nachahmer Petrarcas begonnen hat und zeitlebens in dessen
Spuren geblieben ist. Noch mehr hatte er sür Dante eine außerordentliche
Verehrung, er kannte ihn fast auswendig, er befruchtete seine Phantasie an
dem gewaltigen Bilderreichtum seines großen Landsmanns, vielmehr es war
in ihm eine ebenbürtige Kraft der Bilderschöpfung, der Personifikation, der
Belebung abstrakter Begriffe. Aber dem Dichter der Göttlichen Komödie war
er verwandter als dem der vitA nuovg,. In seiner Lyrik bricht trotz aller An¬
klänge und Entlehnungen ein eigner Geist durch, er hebt sich ab von dem
Troß der Nachahmer. Eben das wollten die Zeitgenossen sagen, wenn sie,
wie Varchi, in der Übereinstimmung mit dem Symposion ein besondres Merkmal
seiner Dichtungen sahen. Auch der Dichter Francesco Berni urteilte, er sei
kein Kenner, aber er meine, die Gedichte Michelangelos alle schon im Platon
gelesen zu haben, und damit stimmt das Zeugnis des Schülers und Bio¬
graphen Condivi: „Oft habe ich Michelangelo hören von Liebe reden und
nachher von andern vernommen, daß, was er darüber sagte, ganz ebenso laute,
wie man im Platon darüber geschrieben findet."

Eine Überlieferung aus platonischen Lehren war schon in die ältere ita¬
lienische Lyrik eingesintert. Die von den Provenzalen überkommne Kunst war
dadurch noch mehr in der Richtung ausgebildet worden, daß man die Geliebte


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[0465] Die Gedichte Michelangelos derart überzeugend, daß sie uns nötigen, als ihre Veranlassung wirkliche Herzensneigungen vorauszusetzen. Erst vom Jahre 1532 an begegnet uns ein geliebter Gegenstand, eine Persönlichkeit, der seine schwärmerische Leidenschaft gilt, ein Name — es ist der Name eines Jünglings. Von nun an haben wir festen Grund unter den Füßen. Zeugnisse von Zeitgenossen und Briefe Michel¬ angelos selbst kommen uns zu Hilfe, die Herzenszustände näher kennen zu lernen, aus denen in den nächsten anderthalb Jahrzehnten eine reiche Lyrik quillt. Diese bildet sich jetzt zu der Vollkommenheit aus, die ihr überhaupt zu erreichen möglich ist, und sie erfüllt sich mit einem Kreise eigentümlicher Vorstellungen, deren Verwandtschaft mit platonischen Ideen schon von den Zeit¬ genossen erkannt worden ist. 3 Ist diese Zusammenstellung von Michelangelos Lyrik mit der Lehre Platons, die Herkunft seiner Vorstellungen aus dem Phädros und dem Sym¬ posion überhaupt berechtigt? Der neuste Erklärer bestreitet es. „Michel¬ angelos Platonismus war der landläufige und unterschied sich kaum von dem Dantes und Petrarcas." Fast zu jedem Gedicht weiß Frey irgend eine Parallelstelle beizubringen aus Dante, Petrarca oder auch aus den Gedichten Polizicms und des Lorenzo Magnifico. Auch diese Nachweise sind ein Ver¬ dienst des Herausgebers. Die Beurteiler der Kirns Michelangelos haben sich bisher zu wenig bemüht, sie in ihren litteraturgeschichtlichen Zusammenhang zu bringen. Es ist unzweifelhaft, daß Michelangelo, wie alle zeitgenössischen Lyriker, als Nachahmer Petrarcas begonnen hat und zeitlebens in dessen Spuren geblieben ist. Noch mehr hatte er sür Dante eine außerordentliche Verehrung, er kannte ihn fast auswendig, er befruchtete seine Phantasie an dem gewaltigen Bilderreichtum seines großen Landsmanns, vielmehr es war in ihm eine ebenbürtige Kraft der Bilderschöpfung, der Personifikation, der Belebung abstrakter Begriffe. Aber dem Dichter der Göttlichen Komödie war er verwandter als dem der vitA nuovg,. In seiner Lyrik bricht trotz aller An¬ klänge und Entlehnungen ein eigner Geist durch, er hebt sich ab von dem Troß der Nachahmer. Eben das wollten die Zeitgenossen sagen, wenn sie, wie Varchi, in der Übereinstimmung mit dem Symposion ein besondres Merkmal seiner Dichtungen sahen. Auch der Dichter Francesco Berni urteilte, er sei kein Kenner, aber er meine, die Gedichte Michelangelos alle schon im Platon gelesen zu haben, und damit stimmt das Zeugnis des Schülers und Bio¬ graphen Condivi: „Oft habe ich Michelangelo hören von Liebe reden und nachher von andern vernommen, daß, was er darüber sagte, ganz ebenso laute, wie man im Platon darüber geschrieben findet." Eine Überlieferung aus platonischen Lehren war schon in die ältere ita¬ lienische Lyrik eingesintert. Die von den Provenzalen überkommne Kunst war dadurch noch mehr in der Richtung ausgebildet worden, daß man die Geliebte Grenzboten III 18»8 58

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/465>, abgerufen am 29.04.2024.