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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Aber das schlimmste zeigte sich erst im nächsten Winter. Da> wurde es so
stilvoll dunkel, daß man überhaupt nichts sah. Man mußte Lichter auf den Altar
und die Kanzel stellen. So konnte wenigstens der Herr Diakonus notdürftig sehen.
Aber von der Gemeinde konnte niemand in seinem Gesangbuch lesen, wenn er nicht
ein Wachslicht mitbrachte. Man beschwerte sich beim Herrn Baninspektor und ver¬
langte Abhilfe. Ach was, antwortete dieser, in der Kaiser-Wilhelmsgedächtniskirche
in Berlin brennen sie im Winter früh auch Licht. Schafft doch Lichthalter um,
natürlich stilvolle mit fünf Armen, das Stück zu hundert Mark. Darauf erklärte
der Gemeindekirchenrat, es fiele ihm gar nicht ein, für die Mönkeberger Kapelle
auch nur noch einen Groschen auszugeben, sie sei jetzt schon viel zu teuer.

So steht nun die Sache. Was werden soll, weiß niemand. Aber beklagen
wir uns nicht. Vollkommnes giebt es nicht in der Welt, und alles Neue muß sich
erst einleben. Hoffen wir vielmehr das beste von der Zukunft. Wenn erst einmal
ein Hagelwetter die Glasmalerei zerschlagen hat, wird man gewiß nicht anstehen,
die neuen Scheiben Heller zu machen. Der Herr Oberpfarrer ist leider nicht zu
seinem Ziele gekommen, die sittliche Erneuerung des Mönkeberges muß auf spätere
Zeiten verschoben werden, dagegen hat der kleine Blutgen darin recht gehabt:
Quakenborn ist um ein Kunstdenkmal bereichert worden.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Die Evangelisation in Berlin.

Auf dem neunten Evangelisch-sozialen
Kongreß wurde vou einem der geistliche" Redner beiläufig der Evangelisations-
bewegung gedacht als eines Mittels, Schwierigkeiten zu überwinden, die sich der
kirchlichen Einwirkung auf die Arbeiter entgegenstellen. Ich weiß, daß viele ganz
gute Leute für den Gedanken, die evangelische Kirche könne etwas helfen in den
sozialen Nöten, nur ein Achselzucken übrig haben, und daß gerade unter den ge¬
bildeten Protestanten in Preußen, auch Leuten in Amt und Würde", die Meinung
vorherrscht, der Einfluß der Kirche auf das sittliche und damit auch auf das soziale
Verhalten der evangelischen Christen sei für immer dahin, und selbst wenn er
wieder gewonnen würde, so sei doch schließlich das Verhalten des Einzelnen sehr
nebensächlich, wenn nicht ganz wertlos für die soziale Frage und die soziale Praxis.
Aber das ist eben nach meiner Überzeugung ein Irrtum, ein Symptom der Krank¬
heit und Entartung des kirchlichen Lebens im Protestantismus. Ich meine, daß
heute und für die Zukunft, so weit wir uns um sie zu sorgen haben, alles darauf
ankommt, dem an keins der geltenden Glaubensbekenntnisse gebundnen, keins ver¬
letzenden, aber über alle erhabnen Kern- und Hauptstück des Evangeliums: der
aufrichtigen und thatkräftigen Nächstenliebe nicht etwa nur wieder, sondern zum
erstenmal recht und ganz zur Anerkennung und Geltung zu verhelfen gegenüber
dem materialistischen Dogma vom Eigennutz und vom Nachtwächterstaat, wie gegen¬
über dem einseitigen, blinden, hastigen Drängen nach Gesetzes- und Polizeimaßregeln
und dem Schüren und Organisiren der Massen im sogenannten Klasseukcmwfe.
Und dazu scheint mir die Kirche, auch die protestantische Kirche in Preußen, durch-


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Aber das schlimmste zeigte sich erst im nächsten Winter. Da> wurde es so
stilvoll dunkel, daß man überhaupt nichts sah. Man mußte Lichter auf den Altar
und die Kanzel stellen. So konnte wenigstens der Herr Diakonus notdürftig sehen.
Aber von der Gemeinde konnte niemand in seinem Gesangbuch lesen, wenn er nicht
ein Wachslicht mitbrachte. Man beschwerte sich beim Herrn Baninspektor und ver¬
langte Abhilfe. Ach was, antwortete dieser, in der Kaiser-Wilhelmsgedächtniskirche
in Berlin brennen sie im Winter früh auch Licht. Schafft doch Lichthalter um,
natürlich stilvolle mit fünf Armen, das Stück zu hundert Mark. Darauf erklärte
der Gemeindekirchenrat, es fiele ihm gar nicht ein, für die Mönkeberger Kapelle
auch nur noch einen Groschen auszugeben, sie sei jetzt schon viel zu teuer.

So steht nun die Sache. Was werden soll, weiß niemand. Aber beklagen
wir uns nicht. Vollkommnes giebt es nicht in der Welt, und alles Neue muß sich
erst einleben. Hoffen wir vielmehr das beste von der Zukunft. Wenn erst einmal
ein Hagelwetter die Glasmalerei zerschlagen hat, wird man gewiß nicht anstehen,
die neuen Scheiben Heller zu machen. Der Herr Oberpfarrer ist leider nicht zu
seinem Ziele gekommen, die sittliche Erneuerung des Mönkeberges muß auf spätere
Zeiten verschoben werden, dagegen hat der kleine Blutgen darin recht gehabt:
Quakenborn ist um ein Kunstdenkmal bereichert worden.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Die Evangelisation in Berlin.

Auf dem neunten Evangelisch-sozialen
Kongreß wurde vou einem der geistliche» Redner beiläufig der Evangelisations-
bewegung gedacht als eines Mittels, Schwierigkeiten zu überwinden, die sich der
kirchlichen Einwirkung auf die Arbeiter entgegenstellen. Ich weiß, daß viele ganz
gute Leute für den Gedanken, die evangelische Kirche könne etwas helfen in den
sozialen Nöten, nur ein Achselzucken übrig haben, und daß gerade unter den ge¬
bildeten Protestanten in Preußen, auch Leuten in Amt und Würde», die Meinung
vorherrscht, der Einfluß der Kirche auf das sittliche und damit auch auf das soziale
Verhalten der evangelischen Christen sei für immer dahin, und selbst wenn er
wieder gewonnen würde, so sei doch schließlich das Verhalten des Einzelnen sehr
nebensächlich, wenn nicht ganz wertlos für die soziale Frage und die soziale Praxis.
Aber das ist eben nach meiner Überzeugung ein Irrtum, ein Symptom der Krank¬
heit und Entartung des kirchlichen Lebens im Protestantismus. Ich meine, daß
heute und für die Zukunft, so weit wir uns um sie zu sorgen haben, alles darauf
ankommt, dem an keins der geltenden Glaubensbekenntnisse gebundnen, keins ver¬
letzenden, aber über alle erhabnen Kern- und Hauptstück des Evangeliums: der
aufrichtigen und thatkräftigen Nächstenliebe nicht etwa nur wieder, sondern zum
erstenmal recht und ganz zur Anerkennung und Geltung zu verhelfen gegenüber
dem materialistischen Dogma vom Eigennutz und vom Nachtwächterstaat, wie gegen¬
über dem einseitigen, blinden, hastigen Drängen nach Gesetzes- und Polizeimaßregeln
und dem Schüren und Organisiren der Massen im sogenannten Klasseukcmwfe.
Und dazu scheint mir die Kirche, auch die protestantische Kirche in Preußen, durch-


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[0483] Maßgebliches und Unmaßgebliches Aber das schlimmste zeigte sich erst im nächsten Winter. Da> wurde es so stilvoll dunkel, daß man überhaupt nichts sah. Man mußte Lichter auf den Altar und die Kanzel stellen. So konnte wenigstens der Herr Diakonus notdürftig sehen. Aber von der Gemeinde konnte niemand in seinem Gesangbuch lesen, wenn er nicht ein Wachslicht mitbrachte. Man beschwerte sich beim Herrn Baninspektor und ver¬ langte Abhilfe. Ach was, antwortete dieser, in der Kaiser-Wilhelmsgedächtniskirche in Berlin brennen sie im Winter früh auch Licht. Schafft doch Lichthalter um, natürlich stilvolle mit fünf Armen, das Stück zu hundert Mark. Darauf erklärte der Gemeindekirchenrat, es fiele ihm gar nicht ein, für die Mönkeberger Kapelle auch nur noch einen Groschen auszugeben, sie sei jetzt schon viel zu teuer. So steht nun die Sache. Was werden soll, weiß niemand. Aber beklagen wir uns nicht. Vollkommnes giebt es nicht in der Welt, und alles Neue muß sich erst einleben. Hoffen wir vielmehr das beste von der Zukunft. Wenn erst einmal ein Hagelwetter die Glasmalerei zerschlagen hat, wird man gewiß nicht anstehen, die neuen Scheiben Heller zu machen. Der Herr Oberpfarrer ist leider nicht zu seinem Ziele gekommen, die sittliche Erneuerung des Mönkeberges muß auf spätere Zeiten verschoben werden, dagegen hat der kleine Blutgen darin recht gehabt: Quakenborn ist um ein Kunstdenkmal bereichert worden. Maßgebliches und Unmaßgebliches Die Evangelisation in Berlin. Auf dem neunten Evangelisch-sozialen Kongreß wurde vou einem der geistliche» Redner beiläufig der Evangelisations- bewegung gedacht als eines Mittels, Schwierigkeiten zu überwinden, die sich der kirchlichen Einwirkung auf die Arbeiter entgegenstellen. Ich weiß, daß viele ganz gute Leute für den Gedanken, die evangelische Kirche könne etwas helfen in den sozialen Nöten, nur ein Achselzucken übrig haben, und daß gerade unter den ge¬ bildeten Protestanten in Preußen, auch Leuten in Amt und Würde», die Meinung vorherrscht, der Einfluß der Kirche auf das sittliche und damit auch auf das soziale Verhalten der evangelischen Christen sei für immer dahin, und selbst wenn er wieder gewonnen würde, so sei doch schließlich das Verhalten des Einzelnen sehr nebensächlich, wenn nicht ganz wertlos für die soziale Frage und die soziale Praxis. Aber das ist eben nach meiner Überzeugung ein Irrtum, ein Symptom der Krank¬ heit und Entartung des kirchlichen Lebens im Protestantismus. Ich meine, daß heute und für die Zukunft, so weit wir uns um sie zu sorgen haben, alles darauf ankommt, dem an keins der geltenden Glaubensbekenntnisse gebundnen, keins ver¬ letzenden, aber über alle erhabnen Kern- und Hauptstück des Evangeliums: der aufrichtigen und thatkräftigen Nächstenliebe nicht etwa nur wieder, sondern zum erstenmal recht und ganz zur Anerkennung und Geltung zu verhelfen gegenüber dem materialistischen Dogma vom Eigennutz und vom Nachtwächterstaat, wie gegen¬ über dem einseitigen, blinden, hastigen Drängen nach Gesetzes- und Polizeimaßregeln und dem Schüren und Organisiren der Massen im sogenannten Klasseukcmwfe. Und dazu scheint mir die Kirche, auch die protestantische Kirche in Preußen, durch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/483>, abgerufen am 29.04.2024.