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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Weltfriede

"Vertraut auf Gott und haltet euer Pulver trocken."
Oliver Cromwell

i
n seltsameres Aktenstück als die Friedenskundgebung des Zaren,
sein Ruf nach "Abrüstung" und sein Vorschlag zu einem all¬
gemeinen Kongresse hat noch niemals das offizielle und nicht-
offizielle Europa in Erstaunen gesetzt. Man fragt sich: Ist das
eine ehrliche Utopie, oder steckt dahinter eine tiefe Berechnung
der russischen Politik, die bekanntlich an Schlauheit von der Diplomatie keines
andern Staats übertroffen wird? Denn zunächst: eine Utopie ist es wirklich
trotz aller europäischen "Friedensfreunde" und allem sonstigen Geschwätz von
Völkerverbrüderung. Auch wer kein Kriegswüterich und kein junger ehrgeiziger
Offizier ist, der sich nach Auszeichnung und Beförderung sehnt -- und die
Mehrzahl der Menschen gehört weder zu der einen noch zu der andern Klasse --,
ja selbst der, der etwas von den Greueln des Krieges mit eignen Augen ge¬
sehen hat, wird, falls er nur etwas von historischer Entwicklung und vom
Politischen Leben versteht, rundweg sagen: der Krieg ist die notwendige Konse¬
quenz aus der Souveränität der Staaten, und die Souveränität, d. h. die
rechtliche Unabhängigkeit von jeder irdischen Gewalt, liegt im Wesen des wirk¬
lichen Staats. Ein Staat, der auf sein Waffenrecht verzichtet, ist kein Staat
mehr im vollen Sinne, er entmannt sich selbst. Er kann sich in Fragen von
geringerer Bedeutung, die den Einsatz eines Krieges nicht lohnen, freiwillig
einem Schiedsgerichte unterwerfen, in jeder ernsten Lebensfrage kann er es
nicht und darf er es nicht. Der Fortschritt in der Entwicklung der Menschheit
besteht zunächst darin, daß die Zahl der politischen Gewalten, die das Waffen-
recht ausüben, immer kleiner geworden ist. Im Mittelalter hatte es jeder
Edelmann und jede Stadt, jetzt haben es nur die Staaten, und im vollsten
Umfange nur die Großmächte, denn nur sie sind heute Staaten im vollen


Gremboten III Z898 61


Weltfriede

„Vertraut auf Gott und haltet euer Pulver trocken."
Oliver Cromwell

i
n seltsameres Aktenstück als die Friedenskundgebung des Zaren,
sein Ruf nach „Abrüstung" und sein Vorschlag zu einem all¬
gemeinen Kongresse hat noch niemals das offizielle und nicht-
offizielle Europa in Erstaunen gesetzt. Man fragt sich: Ist das
eine ehrliche Utopie, oder steckt dahinter eine tiefe Berechnung
der russischen Politik, die bekanntlich an Schlauheit von der Diplomatie keines
andern Staats übertroffen wird? Denn zunächst: eine Utopie ist es wirklich
trotz aller europäischen „Friedensfreunde" und allem sonstigen Geschwätz von
Völkerverbrüderung. Auch wer kein Kriegswüterich und kein junger ehrgeiziger
Offizier ist, der sich nach Auszeichnung und Beförderung sehnt — und die
Mehrzahl der Menschen gehört weder zu der einen noch zu der andern Klasse —,
ja selbst der, der etwas von den Greueln des Krieges mit eignen Augen ge¬
sehen hat, wird, falls er nur etwas von historischer Entwicklung und vom
Politischen Leben versteht, rundweg sagen: der Krieg ist die notwendige Konse¬
quenz aus der Souveränität der Staaten, und die Souveränität, d. h. die
rechtliche Unabhängigkeit von jeder irdischen Gewalt, liegt im Wesen des wirk¬
lichen Staats. Ein Staat, der auf sein Waffenrecht verzichtet, ist kein Staat
mehr im vollen Sinne, er entmannt sich selbst. Er kann sich in Fragen von
geringerer Bedeutung, die den Einsatz eines Krieges nicht lohnen, freiwillig
einem Schiedsgerichte unterwerfen, in jeder ernsten Lebensfrage kann er es
nicht und darf er es nicht. Der Fortschritt in der Entwicklung der Menschheit
besteht zunächst darin, daß die Zahl der politischen Gewalten, die das Waffen-
recht ausüben, immer kleiner geworden ist. Im Mittelalter hatte es jeder
Edelmann und jede Stadt, jetzt haben es nur die Staaten, und im vollsten
Umfange nur die Großmächte, denn nur sie sind heute Staaten im vollen


Gremboten III Z898 61
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[0489] [Abbildung] Weltfriede „Vertraut auf Gott und haltet euer Pulver trocken." Oliver Cromwell i n seltsameres Aktenstück als die Friedenskundgebung des Zaren, sein Ruf nach „Abrüstung" und sein Vorschlag zu einem all¬ gemeinen Kongresse hat noch niemals das offizielle und nicht- offizielle Europa in Erstaunen gesetzt. Man fragt sich: Ist das eine ehrliche Utopie, oder steckt dahinter eine tiefe Berechnung der russischen Politik, die bekanntlich an Schlauheit von der Diplomatie keines andern Staats übertroffen wird? Denn zunächst: eine Utopie ist es wirklich trotz aller europäischen „Friedensfreunde" und allem sonstigen Geschwätz von Völkerverbrüderung. Auch wer kein Kriegswüterich und kein junger ehrgeiziger Offizier ist, der sich nach Auszeichnung und Beförderung sehnt — und die Mehrzahl der Menschen gehört weder zu der einen noch zu der andern Klasse —, ja selbst der, der etwas von den Greueln des Krieges mit eignen Augen ge¬ sehen hat, wird, falls er nur etwas von historischer Entwicklung und vom Politischen Leben versteht, rundweg sagen: der Krieg ist die notwendige Konse¬ quenz aus der Souveränität der Staaten, und die Souveränität, d. h. die rechtliche Unabhängigkeit von jeder irdischen Gewalt, liegt im Wesen des wirk¬ lichen Staats. Ein Staat, der auf sein Waffenrecht verzichtet, ist kein Staat mehr im vollen Sinne, er entmannt sich selbst. Er kann sich in Fragen von geringerer Bedeutung, die den Einsatz eines Krieges nicht lohnen, freiwillig einem Schiedsgerichte unterwerfen, in jeder ernsten Lebensfrage kann er es nicht und darf er es nicht. Der Fortschritt in der Entwicklung der Menschheit besteht zunächst darin, daß die Zahl der politischen Gewalten, die das Waffen- recht ausüben, immer kleiner geworden ist. Im Mittelalter hatte es jeder Edelmann und jede Stadt, jetzt haben es nur die Staaten, und im vollsten Umfange nur die Großmächte, denn nur sie sind heute Staaten im vollen Gremboten III Z898 61

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/489>, abgerufen am 29.04.2024.