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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die hebräische Renaissance in England

andre Strohköpfe ausüben werden, natürlich nur bei uns, denn kein Volk ist für
humane Phrasen so empfänglich und denkt dann so wenig an die eigne Haut,
wie das unsre. Und jetzt klagt der Selbstherrscher aller Reußen in beweg¬
lichen Tönen über die unerschwinglichen Militärlasten, gerade so wie die Herren
Liebknecht, Bebel und well c^nardi! Nach den Äußerungen der sozialdemokra¬
tischen Presse sehen wir also Anträge auf Verwandlung unsers Heeres in eine
Volksmiliz und ähnlichen Unsinn kommen, namentlich da das jämmerliche nord¬
amerikanische Heerwesen einen so überraschenden Erfolg über einen schwachen,
unglaublich verwahrlosten Gegner davongetragen hat. Es wird einiger Ge¬
wandtheit auf den Regierungsbauten bedürfen, um Thorheiten derart unschäd¬
lich zu machen, ohne der Höflichkeit zu vergessen, die man an der Newa er¬
warten darf.

Der Kongreß selbst wird natürlich zustande kommen. Deutschland hat
gute Gründe, ihn zu beschicke", Frankreich muß es aus Rücksicht auf Rußland
und um nicht als der europäische Störenfried zu erscheinen, das in allen
Fugen krachende Österreich-Ungarn hat die allertriftigsten Gründe, kriegerische
Verwicklungen zu vermeiden, da es einem kräftigen Stoße schwerlich mehr
Stand hielte, Italien kann sich dann nicht ausschließen, England wird schon
aus Höflichkeit unter der üblichen rössrvatio möntAlis mitthun, und selbst
Nordamerika wird sich hierin der Schwesternation anschließen müssen. Aber
neugierig sind wir, zu sehen, welche Beschlüsse denn nun eigentlich die hohe
* Versammlung fassen wird.




Die hebräische Renaissance in England

underte von Programmartikeln und sonstigen Abhandlungen be¬
ginnen heutzutage mit dem Leitsatz, daß zur Heilung der Ge¬
brechen unsrer Zeit vor allem eine Wiedererweckung der christ¬
lichen Lebensanschauung Vonnöten sei. Der christliche Geist,
was für den Protestanten soviel heißt als der Geist des
Evangeliums, soll neu belebt werden, auf daß er eine Macht werde in den
Seelen, die bestimmend einwirkt auf die Triebfedern unsers Handelns. Wie
soll nun aber der Geist einströmen in die Herzen, wenn diese sich nicht willig
öffnen dem Wort, das gleich dem kernkräftigen Samenkorn die Leben zeugende
Kraft in sich birgt und trägt und in die gute Erde niederlegt, wo ihr hundert¬
fältige Frucht entsprießt? Wenn dem so ist, daß der Geist nur da zur Wirk¬
samkeit gelangen kann, wo dem Wort eine Stätte bereitet wird, so erhebt sich


Die hebräische Renaissance in England

andre Strohköpfe ausüben werden, natürlich nur bei uns, denn kein Volk ist für
humane Phrasen so empfänglich und denkt dann so wenig an die eigne Haut,
wie das unsre. Und jetzt klagt der Selbstherrscher aller Reußen in beweg¬
lichen Tönen über die unerschwinglichen Militärlasten, gerade so wie die Herren
Liebknecht, Bebel und well c^nardi! Nach den Äußerungen der sozialdemokra¬
tischen Presse sehen wir also Anträge auf Verwandlung unsers Heeres in eine
Volksmiliz und ähnlichen Unsinn kommen, namentlich da das jämmerliche nord¬
amerikanische Heerwesen einen so überraschenden Erfolg über einen schwachen,
unglaublich verwahrlosten Gegner davongetragen hat. Es wird einiger Ge¬
wandtheit auf den Regierungsbauten bedürfen, um Thorheiten derart unschäd¬
lich zu machen, ohne der Höflichkeit zu vergessen, die man an der Newa er¬
warten darf.

Der Kongreß selbst wird natürlich zustande kommen. Deutschland hat
gute Gründe, ihn zu beschicke», Frankreich muß es aus Rücksicht auf Rußland
und um nicht als der europäische Störenfried zu erscheinen, das in allen
Fugen krachende Österreich-Ungarn hat die allertriftigsten Gründe, kriegerische
Verwicklungen zu vermeiden, da es einem kräftigen Stoße schwerlich mehr
Stand hielte, Italien kann sich dann nicht ausschließen, England wird schon
aus Höflichkeit unter der üblichen rössrvatio möntAlis mitthun, und selbst
Nordamerika wird sich hierin der Schwesternation anschließen müssen. Aber
neugierig sind wir, zu sehen, welche Beschlüsse denn nun eigentlich die hohe
* Versammlung fassen wird.




Die hebräische Renaissance in England

underte von Programmartikeln und sonstigen Abhandlungen be¬
ginnen heutzutage mit dem Leitsatz, daß zur Heilung der Ge¬
brechen unsrer Zeit vor allem eine Wiedererweckung der christ¬
lichen Lebensanschauung Vonnöten sei. Der christliche Geist,
was für den Protestanten soviel heißt als der Geist des
Evangeliums, soll neu belebt werden, auf daß er eine Macht werde in den
Seelen, die bestimmend einwirkt auf die Triebfedern unsers Handelns. Wie
soll nun aber der Geist einströmen in die Herzen, wenn diese sich nicht willig
öffnen dem Wort, das gleich dem kernkräftigen Samenkorn die Leben zeugende
Kraft in sich birgt und trägt und in die gute Erde niederlegt, wo ihr hundert¬
fältige Frucht entsprießt? Wenn dem so ist, daß der Geist nur da zur Wirk¬
samkeit gelangen kann, wo dem Wort eine Stätte bereitet wird, so erhebt sich


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[0493] Die hebräische Renaissance in England andre Strohköpfe ausüben werden, natürlich nur bei uns, denn kein Volk ist für humane Phrasen so empfänglich und denkt dann so wenig an die eigne Haut, wie das unsre. Und jetzt klagt der Selbstherrscher aller Reußen in beweg¬ lichen Tönen über die unerschwinglichen Militärlasten, gerade so wie die Herren Liebknecht, Bebel und well c^nardi! Nach den Äußerungen der sozialdemokra¬ tischen Presse sehen wir also Anträge auf Verwandlung unsers Heeres in eine Volksmiliz und ähnlichen Unsinn kommen, namentlich da das jämmerliche nord¬ amerikanische Heerwesen einen so überraschenden Erfolg über einen schwachen, unglaublich verwahrlosten Gegner davongetragen hat. Es wird einiger Ge¬ wandtheit auf den Regierungsbauten bedürfen, um Thorheiten derart unschäd¬ lich zu machen, ohne der Höflichkeit zu vergessen, die man an der Newa er¬ warten darf. Der Kongreß selbst wird natürlich zustande kommen. Deutschland hat gute Gründe, ihn zu beschicke», Frankreich muß es aus Rücksicht auf Rußland und um nicht als der europäische Störenfried zu erscheinen, das in allen Fugen krachende Österreich-Ungarn hat die allertriftigsten Gründe, kriegerische Verwicklungen zu vermeiden, da es einem kräftigen Stoße schwerlich mehr Stand hielte, Italien kann sich dann nicht ausschließen, England wird schon aus Höflichkeit unter der üblichen rössrvatio möntAlis mitthun, und selbst Nordamerika wird sich hierin der Schwesternation anschließen müssen. Aber neugierig sind wir, zu sehen, welche Beschlüsse denn nun eigentlich die hohe * Versammlung fassen wird. Die hebräische Renaissance in England underte von Programmartikeln und sonstigen Abhandlungen be¬ ginnen heutzutage mit dem Leitsatz, daß zur Heilung der Ge¬ brechen unsrer Zeit vor allem eine Wiedererweckung der christ¬ lichen Lebensanschauung Vonnöten sei. Der christliche Geist, was für den Protestanten soviel heißt als der Geist des Evangeliums, soll neu belebt werden, auf daß er eine Macht werde in den Seelen, die bestimmend einwirkt auf die Triebfedern unsers Handelns. Wie soll nun aber der Geist einströmen in die Herzen, wenn diese sich nicht willig öffnen dem Wort, das gleich dem kernkräftigen Samenkorn die Leben zeugende Kraft in sich birgt und trägt und in die gute Erde niederlegt, wo ihr hundert¬ fältige Frucht entsprießt? Wenn dem so ist, daß der Geist nur da zur Wirk¬ samkeit gelangen kann, wo dem Wort eine Stätte bereitet wird, so erhebt sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/493>, abgerufen am 29.04.2024.