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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Der technische Chiliasmus in der neuern Dichtung

und Bogen als eine "ökonomisch wie sozialpolitisch minder leistungsfähige"
und daher zum Untergange verurteilte Betriebsform dargestellt wird. Das ist
es thatsächlich nicht, wie wir unzähligemal bewiesen haben. In Osterreich
mag es bei der Jämmerlichkeit der allermeisten Handwerker so scheinen; im
Deutschen Reiche aber haben wir noch viele tüchtige Handwerker, die ihr gutes
Fortkommen finden, und die auch ihre Lehrlinge gut ausbilden; gerade diese
freilich wollen vom Staatsschutz und von der neuen Organisation nichts wissen;
sie brauchen keins von beiden und wünschen weiter nichts, als daß man sie
ungeschoren lasse. Soweit Genossenschaften heilsam wirken können, wird sie
das Bedürfnis schon von selbst erzeugen; künstlich gebildete und den Hand¬
werkern aufgezwungne werden bei uns so tot bleiben wie in Österreich.




Der technische Chiliasmus in der neuern Dichtung

er Chiliasmus, der Glaube an die irdische Wiederkehr des Hei¬
lands, eine vorläufige Auferstehung der getreusten Zeugen und
Märtyrer der christlichen Heilswahrheit, an das tausendjährige
Reich des Friedens, der üppigsten Fülle und jeder Herrlichkeit,
in dem die heiligen und seligen Priester Gottes, die Teil haben
an der ersten Auferstehung, mit Christus regieren werden, hat seit dem zweiten
Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung in wundersam verschiednen Gestalten
fortgelebt. Der uralte Chiliasmus der Ebioniten und Montanisten, der
Glaube, den Tertullinn verfocht und Origenes bekämpfte, der Chiliasmus der
Wiedertäufer, der im Zion des Schneiderkvnigs von Münster seineu er¬
schreckendsten Ausdruck fand, und der des siebzehnten Jahrhunderts, dem so
verschiedne Gläubige wie die "Heiligen" in Cromwells Regimentern und die
"Erweckten" der kleinen westdeutschen Separatistengemeinden anhingen -- alle
sie trafen in der schwärmerischen Erwartung und der sinnlichen Ausmalung
einer goldnen Zeit immer wieder zusammen. Und wenn schon Origenes mit
bitterm Spott den Chiliasten seiner Tage entgegenrief: "Sie wollen wieder
dasselbe sein, was sie gewesen sind. Ihren Gelüsten schmeichelnd, beziehen sie
die Verheißungen auf sinnliches Wohlbehagen und Überfluß, und darum ganz
besonders begehren sie auch nach der Auferstehung wieder ein Fleisch, dem die
Fähigkeit zu essen und zu trinken und alles zu thun, was dem Fleische zu¬
kommt, nie gebricht. Hierzu fügen sie eheliche Verbindung und Kinderzeugung
und wähnen, Jerusalem werde als irdische Stadt wieder aufgebaut werden.


Der technische Chiliasmus in der neuern Dichtung

und Bogen als eine „ökonomisch wie sozialpolitisch minder leistungsfähige"
und daher zum Untergange verurteilte Betriebsform dargestellt wird. Das ist
es thatsächlich nicht, wie wir unzähligemal bewiesen haben. In Osterreich
mag es bei der Jämmerlichkeit der allermeisten Handwerker so scheinen; im
Deutschen Reiche aber haben wir noch viele tüchtige Handwerker, die ihr gutes
Fortkommen finden, und die auch ihre Lehrlinge gut ausbilden; gerade diese
freilich wollen vom Staatsschutz und von der neuen Organisation nichts wissen;
sie brauchen keins von beiden und wünschen weiter nichts, als daß man sie
ungeschoren lasse. Soweit Genossenschaften heilsam wirken können, wird sie
das Bedürfnis schon von selbst erzeugen; künstlich gebildete und den Hand¬
werkern aufgezwungne werden bei uns so tot bleiben wie in Österreich.




Der technische Chiliasmus in der neuern Dichtung

er Chiliasmus, der Glaube an die irdische Wiederkehr des Hei¬
lands, eine vorläufige Auferstehung der getreusten Zeugen und
Märtyrer der christlichen Heilswahrheit, an das tausendjährige
Reich des Friedens, der üppigsten Fülle und jeder Herrlichkeit,
in dem die heiligen und seligen Priester Gottes, die Teil haben
an der ersten Auferstehung, mit Christus regieren werden, hat seit dem zweiten
Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung in wundersam verschiednen Gestalten
fortgelebt. Der uralte Chiliasmus der Ebioniten und Montanisten, der
Glaube, den Tertullinn verfocht und Origenes bekämpfte, der Chiliasmus der
Wiedertäufer, der im Zion des Schneiderkvnigs von Münster seineu er¬
schreckendsten Ausdruck fand, und der des siebzehnten Jahrhunderts, dem so
verschiedne Gläubige wie die „Heiligen" in Cromwells Regimentern und die
„Erweckten" der kleinen westdeutschen Separatistengemeinden anhingen — alle
sie trafen in der schwärmerischen Erwartung und der sinnlichen Ausmalung
einer goldnen Zeit immer wieder zusammen. Und wenn schon Origenes mit
bitterm Spott den Chiliasten seiner Tage entgegenrief: „Sie wollen wieder
dasselbe sein, was sie gewesen sind. Ihren Gelüsten schmeichelnd, beziehen sie
die Verheißungen auf sinnliches Wohlbehagen und Überfluß, und darum ganz
besonders begehren sie auch nach der Auferstehung wieder ein Fleisch, dem die
Fähigkeit zu essen und zu trinken und alles zu thun, was dem Fleische zu¬
kommt, nie gebricht. Hierzu fügen sie eheliche Verbindung und Kinderzeugung
und wähnen, Jerusalem werde als irdische Stadt wieder aufgebaut werden.


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[0507] Der technische Chiliasmus in der neuern Dichtung und Bogen als eine „ökonomisch wie sozialpolitisch minder leistungsfähige" und daher zum Untergange verurteilte Betriebsform dargestellt wird. Das ist es thatsächlich nicht, wie wir unzähligemal bewiesen haben. In Osterreich mag es bei der Jämmerlichkeit der allermeisten Handwerker so scheinen; im Deutschen Reiche aber haben wir noch viele tüchtige Handwerker, die ihr gutes Fortkommen finden, und die auch ihre Lehrlinge gut ausbilden; gerade diese freilich wollen vom Staatsschutz und von der neuen Organisation nichts wissen; sie brauchen keins von beiden und wünschen weiter nichts, als daß man sie ungeschoren lasse. Soweit Genossenschaften heilsam wirken können, wird sie das Bedürfnis schon von selbst erzeugen; künstlich gebildete und den Hand¬ werkern aufgezwungne werden bei uns so tot bleiben wie in Österreich. Der technische Chiliasmus in der neuern Dichtung er Chiliasmus, der Glaube an die irdische Wiederkehr des Hei¬ lands, eine vorläufige Auferstehung der getreusten Zeugen und Märtyrer der christlichen Heilswahrheit, an das tausendjährige Reich des Friedens, der üppigsten Fülle und jeder Herrlichkeit, in dem die heiligen und seligen Priester Gottes, die Teil haben an der ersten Auferstehung, mit Christus regieren werden, hat seit dem zweiten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung in wundersam verschiednen Gestalten fortgelebt. Der uralte Chiliasmus der Ebioniten und Montanisten, der Glaube, den Tertullinn verfocht und Origenes bekämpfte, der Chiliasmus der Wiedertäufer, der im Zion des Schneiderkvnigs von Münster seineu er¬ schreckendsten Ausdruck fand, und der des siebzehnten Jahrhunderts, dem so verschiedne Gläubige wie die „Heiligen" in Cromwells Regimentern und die „Erweckten" der kleinen westdeutschen Separatistengemeinden anhingen — alle sie trafen in der schwärmerischen Erwartung und der sinnlichen Ausmalung einer goldnen Zeit immer wieder zusammen. Und wenn schon Origenes mit bitterm Spott den Chiliasten seiner Tage entgegenrief: „Sie wollen wieder dasselbe sein, was sie gewesen sind. Ihren Gelüsten schmeichelnd, beziehen sie die Verheißungen auf sinnliches Wohlbehagen und Überfluß, und darum ganz besonders begehren sie auch nach der Auferstehung wieder ein Fleisch, dem die Fähigkeit zu essen und zu trinken und alles zu thun, was dem Fleische zu¬ kommt, nie gebricht. Hierzu fügen sie eheliche Verbindung und Kinderzeugung und wähnen, Jerusalem werde als irdische Stadt wieder aufgebaut werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/507>, abgerufen am 29.04.2024.