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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Gedichte Michelangelos

Bücher die einfache Sensationserregung. Aber wenn sich diese mit anmaßlicher
Tendenz und dem hohlen Pathos verbindet, das überall eine neue Erde und
eine neue Menschheit begehrt, ohne das Geringste für die Beglückung der vor-
handnen Zustände zu bringen, so ist der technische Chiliasmus eine neue
Gefahr für die lebendige Dichtkunst, die von ihrer alten Aufgabe, sich liebevoll
in Natur, Leben und Schicksale der Menschen zu vertiefen, weder lassen kann
noch lassen darf.




9le Gedichte Michelangelos
(Fortsetzung)
4

s si
nd uns die Namen mehrerer der jungen Freunde überliefert,
denen Michelangelo auf der Höhe seines Lebens und seines
Ruhmes eine schwärmerische Zuneigung schenkte, in Ausdrücken,
die den Empfindungen für ein angebetetes Ideal entlehnt sind.
Keinen hat er so mit poetischen Huldigungen überhäuft, wie
den adlichen Römer Tommaso Cavalieri, den auch Varchi und Vasari als
einen Jüngling von unvergleichlicher Schönheit, Anmut der Sitten und
Liebenswürdigkeit preisen. Er war Künstler, lernte bei Michelangelo, half
ihm bei seinen Arbeiten und blieb bis zum Tode des Meisters einer seiner
vertrautesten Freunde. Noch in seiner letzten Krankheit war er ihm ein treuer
Pfleger. Michelangelo lernte ihn ohne Zweifel bei seinem Aufenthalt vom Sep¬
tember 1532 bis Juni 1533 in Rom kennen, und kaum war er wieder nach
Florenz zurück, so schrieb er ihm Briefe im Tone überschwenglicher Bewun¬
derung, ja unterwürfiger Huldigung. Er redet ihn an als mächtiges Ingenium,
als Leuchte des Jahrhunderts, einzig in der Welt. Und hier in Florenz schreibt
er auch die ersten Sonette nieder, in denen er seine Gefühle für den entfernten
Freund ausspricht, schwermütige Liebesklagen, leidenschaftliche Ergüsse, von
einer schwungvollen Beredsamkeit, die überrascht: er vergleicht sich dem Mond,
der nur von der Sonne Licht empfängt, mit seinem Wollen und Denken ist er
ganz dem Freunde hingegeben, ihn, den flügellosen, hebt des Freundes Gefieder
Zum Himmel empor. In den Briefen an die andern Freunde in Rom ist
ruiner von Cavalieri die Rede, und die Sehnsucht nach dem Geliebten ist einer
der Beweggründe, die ihn nach Rom treiben.

Eine Entwicklung dieses Verhältnisses ist nicht sichtbar. Immerhin läßt
sich sagen, daß dem stürmischen Anfang eine Periode beruhigterer Empfindungen


Die Gedichte Michelangelos

Bücher die einfache Sensationserregung. Aber wenn sich diese mit anmaßlicher
Tendenz und dem hohlen Pathos verbindet, das überall eine neue Erde und
eine neue Menschheit begehrt, ohne das Geringste für die Beglückung der vor-
handnen Zustände zu bringen, so ist der technische Chiliasmus eine neue
Gefahr für die lebendige Dichtkunst, die von ihrer alten Aufgabe, sich liebevoll
in Natur, Leben und Schicksale der Menschen zu vertiefen, weder lassen kann
noch lassen darf.




9le Gedichte Michelangelos
(Fortsetzung)
4

s si
nd uns die Namen mehrerer der jungen Freunde überliefert,
denen Michelangelo auf der Höhe seines Lebens und seines
Ruhmes eine schwärmerische Zuneigung schenkte, in Ausdrücken,
die den Empfindungen für ein angebetetes Ideal entlehnt sind.
Keinen hat er so mit poetischen Huldigungen überhäuft, wie
den adlichen Römer Tommaso Cavalieri, den auch Varchi und Vasari als
einen Jüngling von unvergleichlicher Schönheit, Anmut der Sitten und
Liebenswürdigkeit preisen. Er war Künstler, lernte bei Michelangelo, half
ihm bei seinen Arbeiten und blieb bis zum Tode des Meisters einer seiner
vertrautesten Freunde. Noch in seiner letzten Krankheit war er ihm ein treuer
Pfleger. Michelangelo lernte ihn ohne Zweifel bei seinem Aufenthalt vom Sep¬
tember 1532 bis Juni 1533 in Rom kennen, und kaum war er wieder nach
Florenz zurück, so schrieb er ihm Briefe im Tone überschwenglicher Bewun¬
derung, ja unterwürfiger Huldigung. Er redet ihn an als mächtiges Ingenium,
als Leuchte des Jahrhunderts, einzig in der Welt. Und hier in Florenz schreibt
er auch die ersten Sonette nieder, in denen er seine Gefühle für den entfernten
Freund ausspricht, schwermütige Liebesklagen, leidenschaftliche Ergüsse, von
einer schwungvollen Beredsamkeit, die überrascht: er vergleicht sich dem Mond,
der nur von der Sonne Licht empfängt, mit seinem Wollen und Denken ist er
ganz dem Freunde hingegeben, ihn, den flügellosen, hebt des Freundes Gefieder
Zum Himmel empor. In den Briefen an die andern Freunde in Rom ist
ruiner von Cavalieri die Rede, und die Sehnsucht nach dem Geliebten ist einer
der Beweggründe, die ihn nach Rom treiben.

Eine Entwicklung dieses Verhältnisses ist nicht sichtbar. Immerhin läßt
sich sagen, daß dem stürmischen Anfang eine Periode beruhigterer Empfindungen


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[0517] Die Gedichte Michelangelos Bücher die einfache Sensationserregung. Aber wenn sich diese mit anmaßlicher Tendenz und dem hohlen Pathos verbindet, das überall eine neue Erde und eine neue Menschheit begehrt, ohne das Geringste für die Beglückung der vor- handnen Zustände zu bringen, so ist der technische Chiliasmus eine neue Gefahr für die lebendige Dichtkunst, die von ihrer alten Aufgabe, sich liebevoll in Natur, Leben und Schicksale der Menschen zu vertiefen, weder lassen kann noch lassen darf. 9le Gedichte Michelangelos (Fortsetzung) 4 s si nd uns die Namen mehrerer der jungen Freunde überliefert, denen Michelangelo auf der Höhe seines Lebens und seines Ruhmes eine schwärmerische Zuneigung schenkte, in Ausdrücken, die den Empfindungen für ein angebetetes Ideal entlehnt sind. Keinen hat er so mit poetischen Huldigungen überhäuft, wie den adlichen Römer Tommaso Cavalieri, den auch Varchi und Vasari als einen Jüngling von unvergleichlicher Schönheit, Anmut der Sitten und Liebenswürdigkeit preisen. Er war Künstler, lernte bei Michelangelo, half ihm bei seinen Arbeiten und blieb bis zum Tode des Meisters einer seiner vertrautesten Freunde. Noch in seiner letzten Krankheit war er ihm ein treuer Pfleger. Michelangelo lernte ihn ohne Zweifel bei seinem Aufenthalt vom Sep¬ tember 1532 bis Juni 1533 in Rom kennen, und kaum war er wieder nach Florenz zurück, so schrieb er ihm Briefe im Tone überschwenglicher Bewun¬ derung, ja unterwürfiger Huldigung. Er redet ihn an als mächtiges Ingenium, als Leuchte des Jahrhunderts, einzig in der Welt. Und hier in Florenz schreibt er auch die ersten Sonette nieder, in denen er seine Gefühle für den entfernten Freund ausspricht, schwermütige Liebesklagen, leidenschaftliche Ergüsse, von einer schwungvollen Beredsamkeit, die überrascht: er vergleicht sich dem Mond, der nur von der Sonne Licht empfängt, mit seinem Wollen und Denken ist er ganz dem Freunde hingegeben, ihn, den flügellosen, hebt des Freundes Gefieder Zum Himmel empor. In den Briefen an die andern Freunde in Rom ist ruiner von Cavalieri die Rede, und die Sehnsucht nach dem Geliebten ist einer der Beweggründe, die ihn nach Rom treiben. Eine Entwicklung dieses Verhältnisses ist nicht sichtbar. Immerhin läßt sich sagen, daß dem stürmischen Anfang eine Periode beruhigterer Empfindungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/517>, abgerufen am 29.04.2024.