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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Litteratur

Mantegna, wir wissen ganz genau, wer für die gesamte Kunstentwicklung größeres
geleistet hat, Lysipp oder Clodion, Michelangelo oder Thorwaldsen. Und wir
wissen es, weil wir den Maßstab der Illusion haben, weil uns bekannt ist, daß
die wirklich großen Meister immer die für ihre Zeit höchste Illusion angestrebt,
d. h. den engen Zusammenhang mit der Natur festgehalten haben, weil jede
Kunst, die mit Bewußtsein auf Illusion verzichtet und die künstlerischen Mittel,
dnrch die diese erreicht werden kann, auf eine frühere Stufe zurückschraubt, eine
Afterkunst, eine Verfallskunst ist. Eine solche Verfallskunst war die archaistische
Plastik der römischen Kaiserzeit, eine solche ist die moderne ave^äsnes. Wer an
den Plataeer eines Chüret und Lautrec, an den Holzschnitten eines Valloton und
Doudelet seine Freude hat, wird sich mit den Vertretern des Illusionismus nie
verständigen können. Er hat vielleicht die augenblicklich herrschende Mode für sich,
wir dagegen die Aussprüche aller großen Künstler der Vergangenheit, die Theorien
unsrer klassischen Dichter, die ganze Geschichte der Malerei seit dem fünfzehnten
Jahrhundert, endlich die Überzeugungen der besten modernen Realisten. Warten
wir ab, wessen Anschauung den Sieg behält.




Litteratur

Was lehrte Jesus? Von Wolfgang Kirchbach, Berlin, Fero, Dümmler, 1897

Die Lektüre dieses Buches ruft den peinlichen Eindruck hervor, den man immer
hat, wenn ein Autor voll Feuereifer andern Leuten die Brille Putzen will und
keine Ahnung davon hat, wie trübe die ist, die ihm auf der Nase sitzt. Die un¬
glaubliche Verschieben von Kirchbachs Unternehmen wird jedem klar sein, wenn
wir ihm sagen, daß es die Absicht des Verfassers ist, die echte Lehre Jesu als
einen aufgeklärten Pantheismus zu enthüllen. Mit welcher Willkür er dabei Worte
Jesu herausreißen und umdeuten muß, liegt auf der Hand, und man kann an dem
Buche nur die Konsequenz der begeisterten Verblendung bewundern, mit der diese
sonderbare Exegese durchgeführt ist. Nur einige Proben, wie der schlimme Luther
hier korrigirt wird! Es heißt nicht! Reich der Himmel, sondern: Macht des All;
es heißt nicht: des Menschen Sohn muß erhöhet werden, sondern: Die Menschen
müssen auf ein höheres Niveau gebracht werden; es heißt nicht: die geistlich arm
sind, sondern: die Bettler um Geist; Jesu Wort: niemand kennet den Vater, denn
der Sohn, bedeutet: über das Absolute kann der Mensch schlechthin keine Aussage
machen, nur wer sich als Glied des Universums fühlt, darf auf sein Verhältnis
zu ihm das Bild von Vater und Sohn anwenden. -- Nun, das Ganze könnte
man komisch nehmen, wenn es nur nicht Kreise gäbe, die die ihnen mangelnde
Bildung durch das Studium solcher auf der "Höhe der Zeit" stehenden Leistungen
zu ersetzen meinen. Den sittlichen Ernst in der Weltanschauung des Verfassers
erkennen wir gern an, aber "was Jesus lehrte" ist alles andre eher, als was
Kirchbach lehrt.




Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Will). Grunow in Leipzig. -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
Litteratur

Mantegna, wir wissen ganz genau, wer für die gesamte Kunstentwicklung größeres
geleistet hat, Lysipp oder Clodion, Michelangelo oder Thorwaldsen. Und wir
wissen es, weil wir den Maßstab der Illusion haben, weil uns bekannt ist, daß
die wirklich großen Meister immer die für ihre Zeit höchste Illusion angestrebt,
d. h. den engen Zusammenhang mit der Natur festgehalten haben, weil jede
Kunst, die mit Bewußtsein auf Illusion verzichtet und die künstlerischen Mittel,
dnrch die diese erreicht werden kann, auf eine frühere Stufe zurückschraubt, eine
Afterkunst, eine Verfallskunst ist. Eine solche Verfallskunst war die archaistische
Plastik der römischen Kaiserzeit, eine solche ist die moderne ave^äsnes. Wer an
den Plataeer eines Chüret und Lautrec, an den Holzschnitten eines Valloton und
Doudelet seine Freude hat, wird sich mit den Vertretern des Illusionismus nie
verständigen können. Er hat vielleicht die augenblicklich herrschende Mode für sich,
wir dagegen die Aussprüche aller großen Künstler der Vergangenheit, die Theorien
unsrer klassischen Dichter, die ganze Geschichte der Malerei seit dem fünfzehnten
Jahrhundert, endlich die Überzeugungen der besten modernen Realisten. Warten
wir ab, wessen Anschauung den Sieg behält.




Litteratur

Was lehrte Jesus? Von Wolfgang Kirchbach, Berlin, Fero, Dümmler, 1897

Die Lektüre dieses Buches ruft den peinlichen Eindruck hervor, den man immer
hat, wenn ein Autor voll Feuereifer andern Leuten die Brille Putzen will und
keine Ahnung davon hat, wie trübe die ist, die ihm auf der Nase sitzt. Die un¬
glaubliche Verschieben von Kirchbachs Unternehmen wird jedem klar sein, wenn
wir ihm sagen, daß es die Absicht des Verfassers ist, die echte Lehre Jesu als
einen aufgeklärten Pantheismus zu enthüllen. Mit welcher Willkür er dabei Worte
Jesu herausreißen und umdeuten muß, liegt auf der Hand, und man kann an dem
Buche nur die Konsequenz der begeisterten Verblendung bewundern, mit der diese
sonderbare Exegese durchgeführt ist. Nur einige Proben, wie der schlimme Luther
hier korrigirt wird! Es heißt nicht! Reich der Himmel, sondern: Macht des All;
es heißt nicht: des Menschen Sohn muß erhöhet werden, sondern: Die Menschen
müssen auf ein höheres Niveau gebracht werden; es heißt nicht: die geistlich arm
sind, sondern: die Bettler um Geist; Jesu Wort: niemand kennet den Vater, denn
der Sohn, bedeutet: über das Absolute kann der Mensch schlechthin keine Aussage
machen, nur wer sich als Glied des Universums fühlt, darf auf sein Verhältnis
zu ihm das Bild von Vater und Sohn anwenden. — Nun, das Ganze könnte
man komisch nehmen, wenn es nur nicht Kreise gäbe, die die ihnen mangelnde
Bildung durch das Studium solcher auf der „Höhe der Zeit" stehenden Leistungen
zu ersetzen meinen. Den sittlichen Ernst in der Weltanschauung des Verfassers
erkennen wir gern an, aber „was Jesus lehrte" ist alles andre eher, als was
Kirchbach lehrt.




Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Will). Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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[0536] Litteratur Mantegna, wir wissen ganz genau, wer für die gesamte Kunstentwicklung größeres geleistet hat, Lysipp oder Clodion, Michelangelo oder Thorwaldsen. Und wir wissen es, weil wir den Maßstab der Illusion haben, weil uns bekannt ist, daß die wirklich großen Meister immer die für ihre Zeit höchste Illusion angestrebt, d. h. den engen Zusammenhang mit der Natur festgehalten haben, weil jede Kunst, die mit Bewußtsein auf Illusion verzichtet und die künstlerischen Mittel, dnrch die diese erreicht werden kann, auf eine frühere Stufe zurückschraubt, eine Afterkunst, eine Verfallskunst ist. Eine solche Verfallskunst war die archaistische Plastik der römischen Kaiserzeit, eine solche ist die moderne ave^äsnes. Wer an den Plataeer eines Chüret und Lautrec, an den Holzschnitten eines Valloton und Doudelet seine Freude hat, wird sich mit den Vertretern des Illusionismus nie verständigen können. Er hat vielleicht die augenblicklich herrschende Mode für sich, wir dagegen die Aussprüche aller großen Künstler der Vergangenheit, die Theorien unsrer klassischen Dichter, die ganze Geschichte der Malerei seit dem fünfzehnten Jahrhundert, endlich die Überzeugungen der besten modernen Realisten. Warten wir ab, wessen Anschauung den Sieg behält. Litteratur Was lehrte Jesus? Von Wolfgang Kirchbach, Berlin, Fero, Dümmler, 1897 Die Lektüre dieses Buches ruft den peinlichen Eindruck hervor, den man immer hat, wenn ein Autor voll Feuereifer andern Leuten die Brille Putzen will und keine Ahnung davon hat, wie trübe die ist, die ihm auf der Nase sitzt. Die un¬ glaubliche Verschieben von Kirchbachs Unternehmen wird jedem klar sein, wenn wir ihm sagen, daß es die Absicht des Verfassers ist, die echte Lehre Jesu als einen aufgeklärten Pantheismus zu enthüllen. Mit welcher Willkür er dabei Worte Jesu herausreißen und umdeuten muß, liegt auf der Hand, und man kann an dem Buche nur die Konsequenz der begeisterten Verblendung bewundern, mit der diese sonderbare Exegese durchgeführt ist. Nur einige Proben, wie der schlimme Luther hier korrigirt wird! Es heißt nicht! Reich der Himmel, sondern: Macht des All; es heißt nicht: des Menschen Sohn muß erhöhet werden, sondern: Die Menschen müssen auf ein höheres Niveau gebracht werden; es heißt nicht: die geistlich arm sind, sondern: die Bettler um Geist; Jesu Wort: niemand kennet den Vater, denn der Sohn, bedeutet: über das Absolute kann der Mensch schlechthin keine Aussage machen, nur wer sich als Glied des Universums fühlt, darf auf sein Verhältnis zu ihm das Bild von Vater und Sohn anwenden. — Nun, das Ganze könnte man komisch nehmen, wenn es nur nicht Kreise gäbe, die die ihnen mangelnde Bildung durch das Studium solcher auf der „Höhe der Zeit" stehenden Leistungen zu ersetzen meinen. Den sittlichen Ernst in der Weltanschauung des Verfassers erkennen wir gern an, aber „was Jesus lehrte" ist alles andre eher, als was Kirchbach lehrt. Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Will). Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/536>, abgerufen am 29.04.2024.