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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Was ist uns Anatolien?

j cum man mich fragt, wie Anatolien aussieht, so muß ich ant¬
worten: Öde, wüst und leer. Damit meine ich nicht seine
hier und da gartenähnlichen Meeresküsten, sondern das Hoch¬
land, das achthundert Meter über dem Meere liegt, dessen
Bergesspitzen höher als zweitausend Meter sind, das ein Klima
hat und Wälder, Wiesen und grüne Felder haben könnte wie unsre Heimat --
wo nur die Sonue mittags ein gut Teil heißer brennt, und der Wind
abends viel kälter weht als bei uns. Öde! Denn die Höhenzüge dieses
Berglandes sind nackt, die Thäler kahl und grau, statt grün. Das einzige,
sehr spärlich verteilte Grün ist das des jungen Getreides, das niedriger,
dünner und gelber aussieht, als bei uns im Frühjahr. Wüst! Denn seine
Städte bestehen aus elenden Lchmhciusern, zerstreut gebaut auf die mar¬
mornen Schutthaufen der alten Zeit und des Mittelalters, die noch so un-
geräumt daliegen, daß man meinen sollte, erst vor wenigen Jahrzehnten wäre
hier eine größere Welt in Trümmer gegangen. Und leer! Denn man fährt
meilenweit in den breiten Thälern, ohne mehr Lebendiges zu sehen als ein
Paar Schafherden!

Ist es denn wirklich möglich, daß nur Menschenunvernunft an dieser Ver¬
wüstung schuld ist, daß hier dichte Wälder, reiche Ernten und volkreiche Städte
stehen müßten, wenn nicht ein Heuschreckenschwarm gekommen wäre, der alles
auffraß, ein Nomadenvolk, das jetzt über die leeren Felder und über den Thal¬
boden, der ausgedörrt und hart geworden ist wie ein Exerzierplatz, seine
Herden treibt, das alle Berge kahl macht, Feuer in die Wälder legt, vou
den schönsten Bäumen die Äste sägt, während es den Stamm stehen läßt,
dessen Ziegenherden jeden Nachwuchs der Bäume vernichten, dessen Nachlässig¬
keit alle alten Bewässeruugswerke verfallen läßt, ein Volk, das in diesem einst


Grenzboten III 1898 67


Was ist uns Anatolien?

j cum man mich fragt, wie Anatolien aussieht, so muß ich ant¬
worten: Öde, wüst und leer. Damit meine ich nicht seine
hier und da gartenähnlichen Meeresküsten, sondern das Hoch¬
land, das achthundert Meter über dem Meere liegt, dessen
Bergesspitzen höher als zweitausend Meter sind, das ein Klima
hat und Wälder, Wiesen und grüne Felder haben könnte wie unsre Heimat —
wo nur die Sonue mittags ein gut Teil heißer brennt, und der Wind
abends viel kälter weht als bei uns. Öde! Denn die Höhenzüge dieses
Berglandes sind nackt, die Thäler kahl und grau, statt grün. Das einzige,
sehr spärlich verteilte Grün ist das des jungen Getreides, das niedriger,
dünner und gelber aussieht, als bei uns im Frühjahr. Wüst! Denn seine
Städte bestehen aus elenden Lchmhciusern, zerstreut gebaut auf die mar¬
mornen Schutthaufen der alten Zeit und des Mittelalters, die noch so un-
geräumt daliegen, daß man meinen sollte, erst vor wenigen Jahrzehnten wäre
hier eine größere Welt in Trümmer gegangen. Und leer! Denn man fährt
meilenweit in den breiten Thälern, ohne mehr Lebendiges zu sehen als ein
Paar Schafherden!

Ist es denn wirklich möglich, daß nur Menschenunvernunft an dieser Ver¬
wüstung schuld ist, daß hier dichte Wälder, reiche Ernten und volkreiche Städte
stehen müßten, wenn nicht ein Heuschreckenschwarm gekommen wäre, der alles
auffraß, ein Nomadenvolk, das jetzt über die leeren Felder und über den Thal¬
boden, der ausgedörrt und hart geworden ist wie ein Exerzierplatz, seine
Herden treibt, das alle Berge kahl macht, Feuer in die Wälder legt, vou
den schönsten Bäumen die Äste sägt, während es den Stamm stehen läßt,
dessen Ziegenherden jeden Nachwuchs der Bäume vernichten, dessen Nachlässig¬
keit alle alten Bewässeruugswerke verfallen läßt, ein Volk, das in diesem einst


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[0537] [Abbildung] Was ist uns Anatolien? j cum man mich fragt, wie Anatolien aussieht, so muß ich ant¬ worten: Öde, wüst und leer. Damit meine ich nicht seine hier und da gartenähnlichen Meeresküsten, sondern das Hoch¬ land, das achthundert Meter über dem Meere liegt, dessen Bergesspitzen höher als zweitausend Meter sind, das ein Klima hat und Wälder, Wiesen und grüne Felder haben könnte wie unsre Heimat — wo nur die Sonue mittags ein gut Teil heißer brennt, und der Wind abends viel kälter weht als bei uns. Öde! Denn die Höhenzüge dieses Berglandes sind nackt, die Thäler kahl und grau, statt grün. Das einzige, sehr spärlich verteilte Grün ist das des jungen Getreides, das niedriger, dünner und gelber aussieht, als bei uns im Frühjahr. Wüst! Denn seine Städte bestehen aus elenden Lchmhciusern, zerstreut gebaut auf die mar¬ mornen Schutthaufen der alten Zeit und des Mittelalters, die noch so un- geräumt daliegen, daß man meinen sollte, erst vor wenigen Jahrzehnten wäre hier eine größere Welt in Trümmer gegangen. Und leer! Denn man fährt meilenweit in den breiten Thälern, ohne mehr Lebendiges zu sehen als ein Paar Schafherden! Ist es denn wirklich möglich, daß nur Menschenunvernunft an dieser Ver¬ wüstung schuld ist, daß hier dichte Wälder, reiche Ernten und volkreiche Städte stehen müßten, wenn nicht ein Heuschreckenschwarm gekommen wäre, der alles auffraß, ein Nomadenvolk, das jetzt über die leeren Felder und über den Thal¬ boden, der ausgedörrt und hart geworden ist wie ein Exerzierplatz, seine Herden treibt, das alle Berge kahl macht, Feuer in die Wälder legt, vou den schönsten Bäumen die Äste sägt, während es den Stamm stehen läßt, dessen Ziegenherden jeden Nachwuchs der Bäume vernichten, dessen Nachlässig¬ keit alle alten Bewässeruugswerke verfallen läßt, ein Volk, das in diesem einst Grenzboten III 1898 67

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/537>, abgerufen am 29.04.2024.