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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Was ist uns Anatolien?
(Schluß)

s
gehört Mut dazu, durch das Hochland von Kleinasien eine
Eisenbahn zu legen. Man denke sich ein großes Thal, hundert
Kilometer lang, acht bis fünfzehn Kilometer breit, nackte Berg¬
züge, an deren Fuß aller drei Meilen ein Dörfchen liegt; in der
ungeheuern Thalebne keine Ortschaften, keine Bäume, keine Ge¬
treidefelder, den Boden, wo er sumpfig ist, mit sauerm, schilfigem Gras bestanden,
wo er trocken ist, von keinem Rasen bedeckt, sondern mit großen Stauden von
Bilsenkraut, Wolfs milcharten und mannshohen Disteln dürftig besetzt. Ein
Fluß fließt in mannigfachen Windungen durch das Thal, bald tief eingeschnitten,
bald mit flachen Ufern. Sein muntres Gefülle erlaubt es, das Wasser durch
Kanäle von mäßiger Länge überall auf die Wiesen zu bringen und auf so
einfache Art Hunderte von Morgen zu bewässern. Ungeheure Mengen von
Störchen stehen umher auf diesen blitzenden Flächen, und in dem flachen Wasser
Patsche eine hundertköpfige Herde von Rindern, Büffeln, Pferden und Eseln,
um das saure Gras abzuweiden. Eine solche Herde ist zuweilen auf lauge
Strecken das einzige Kulturzeichen, das man bemerkt. Eine Meile vorher ent¬
deckt man sie, und eine Meile nachher noch bleibt das Auge an ihr hängen.
Trifft man ein Dorf, so glaubt man einen Schutthaufen zu sehen, so schmucklos
sind diese Hütten aus getrockneter Erde und diese Höhlen, aus Feldsteinen ge¬
schichtet und mit Erde gedeckt. In der Umgebung sind wenige Morgen Ge¬
treide angebaut. Einige Erdhügel, worunter die Futtervorräte für den Winter,
nämlich Häcksel, aufbewahrt werden, vertreten die Stellen der Wirtschafts¬
gebäude. Nur selten sieht man einen Baum oder einen Strauch, der ein wenig
das trostlose Bild verschönern könnte. So war die Physiognomie dieser Thäler,
ehe die Bahn gebaut wurde. Das Land führte nur Wolle und Hunde aus


Grenzboten III IM8 74


Was ist uns Anatolien?
(Schluß)

s
gehört Mut dazu, durch das Hochland von Kleinasien eine
Eisenbahn zu legen. Man denke sich ein großes Thal, hundert
Kilometer lang, acht bis fünfzehn Kilometer breit, nackte Berg¬
züge, an deren Fuß aller drei Meilen ein Dörfchen liegt; in der
ungeheuern Thalebne keine Ortschaften, keine Bäume, keine Ge¬
treidefelder, den Boden, wo er sumpfig ist, mit sauerm, schilfigem Gras bestanden,
wo er trocken ist, von keinem Rasen bedeckt, sondern mit großen Stauden von
Bilsenkraut, Wolfs milcharten und mannshohen Disteln dürftig besetzt. Ein
Fluß fließt in mannigfachen Windungen durch das Thal, bald tief eingeschnitten,
bald mit flachen Ufern. Sein muntres Gefülle erlaubt es, das Wasser durch
Kanäle von mäßiger Länge überall auf die Wiesen zu bringen und auf so
einfache Art Hunderte von Morgen zu bewässern. Ungeheure Mengen von
Störchen stehen umher auf diesen blitzenden Flächen, und in dem flachen Wasser
Patsche eine hundertköpfige Herde von Rindern, Büffeln, Pferden und Eseln,
um das saure Gras abzuweiden. Eine solche Herde ist zuweilen auf lauge
Strecken das einzige Kulturzeichen, das man bemerkt. Eine Meile vorher ent¬
deckt man sie, und eine Meile nachher noch bleibt das Auge an ihr hängen.
Trifft man ein Dorf, so glaubt man einen Schutthaufen zu sehen, so schmucklos
sind diese Hütten aus getrockneter Erde und diese Höhlen, aus Feldsteinen ge¬
schichtet und mit Erde gedeckt. In der Umgebung sind wenige Morgen Ge¬
treide angebaut. Einige Erdhügel, worunter die Futtervorräte für den Winter,
nämlich Häcksel, aufbewahrt werden, vertreten die Stellen der Wirtschafts¬
gebäude. Nur selten sieht man einen Baum oder einen Strauch, der ein wenig
das trostlose Bild verschönern könnte. So war die Physiognomie dieser Thäler,
ehe die Bahn gebaut wurde. Das Land führte nur Wolle und Hunde aus


Grenzboten III IM8 74
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[0589] [Abbildung] Was ist uns Anatolien? (Schluß) s gehört Mut dazu, durch das Hochland von Kleinasien eine Eisenbahn zu legen. Man denke sich ein großes Thal, hundert Kilometer lang, acht bis fünfzehn Kilometer breit, nackte Berg¬ züge, an deren Fuß aller drei Meilen ein Dörfchen liegt; in der ungeheuern Thalebne keine Ortschaften, keine Bäume, keine Ge¬ treidefelder, den Boden, wo er sumpfig ist, mit sauerm, schilfigem Gras bestanden, wo er trocken ist, von keinem Rasen bedeckt, sondern mit großen Stauden von Bilsenkraut, Wolfs milcharten und mannshohen Disteln dürftig besetzt. Ein Fluß fließt in mannigfachen Windungen durch das Thal, bald tief eingeschnitten, bald mit flachen Ufern. Sein muntres Gefülle erlaubt es, das Wasser durch Kanäle von mäßiger Länge überall auf die Wiesen zu bringen und auf so einfache Art Hunderte von Morgen zu bewässern. Ungeheure Mengen von Störchen stehen umher auf diesen blitzenden Flächen, und in dem flachen Wasser Patsche eine hundertköpfige Herde von Rindern, Büffeln, Pferden und Eseln, um das saure Gras abzuweiden. Eine solche Herde ist zuweilen auf lauge Strecken das einzige Kulturzeichen, das man bemerkt. Eine Meile vorher ent¬ deckt man sie, und eine Meile nachher noch bleibt das Auge an ihr hängen. Trifft man ein Dorf, so glaubt man einen Schutthaufen zu sehen, so schmucklos sind diese Hütten aus getrockneter Erde und diese Höhlen, aus Feldsteinen ge¬ schichtet und mit Erde gedeckt. In der Umgebung sind wenige Morgen Ge¬ treide angebaut. Einige Erdhügel, worunter die Futtervorräte für den Winter, nämlich Häcksel, aufbewahrt werden, vertreten die Stellen der Wirtschafts¬ gebäude. Nur selten sieht man einen Baum oder einen Strauch, der ein wenig das trostlose Bild verschönern könnte. So war die Physiognomie dieser Thäler, ehe die Bahn gebaut wurde. Das Land führte nur Wolle und Hunde aus Grenzboten III IM8 74

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/589>, abgerufen am 29.04.2024.