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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Nach der Reichstagswahl

it lautem Dank und außerordentlicher Ehrung ist vor einigen
Wochen der alte Reichstag vom Kaiser geschlossen worden. Das
war wohl politisch klug und weise und nach der Masse gesetz¬
geberischer Arbeit am Königsplatz auch äußerlich begründet. Und
doch ist noch kein Reichstag aus einander gegangen, der die
Unfruchtbarkeit unsers politischen Volkslebens dem Volke selbst und den Regie¬
rungen so deutlich vor Augen geführt Hütte. Was in erzwungnem Zusammen¬
wirken der Regierungen und des Reichstags in den fünf Jahren Gutes ge¬
leistet worden ist, das wird die Geschichte, die ehrlich ist, auf das Konto der
Regierungen zu bringen haben, und zwar zum großen Teil auf das des Kaisers
allein, der persönlich mit nicht erlahmender Willensstärke und mit klarem Blick
das Steuer geführt und den Dampf gegeben hat. Die hoch geehrten Reichs¬
boten aber haben zu Haus dann aufs neue Dank und Anerkennung geerntet
vom deutschen Volke, dessen Geschäfte sie so meisterlich und aufopfernd geführt
haben, natürlich vor allem in der Opposition gegen den Kaiser und gegen die
Regierungen. Und das deutsche Volk hat den neuen Reichstag gewählt, genau
so zerfahren und undeutsch, wie der alte war. Der Kaiser und das Reich sind
wieder einmal um den Dank des Volks, und das Volk um das Vertrauen
zu Kaiser und Reich geprellt worden.

Es war gewiß ein großes, herrliches Erbe, das der Kaiser vor einem
Jahrzehnt angetreten hat. Aber schwer lastete auf der Erbschaft der Fluch
der unseligen demagogischen Interessenpolitik, die man als einzig wahre Real¬
politik dem deutschen Michel aufgeschwatzt hatte, der Pseudosozialismus in der
Politik, der jedermann den Staatszweck im geschäftlichen Vorteil und Geld¬
gewinn für jedermann zu sehen gelehrt hat, statt allen die Rücksicht ans alle
zu lehren. Er hat ganz natürlich die deutschen Grafen wie die deutschen


Grenzboten III 1898 1


Nach der Reichstagswahl

it lautem Dank und außerordentlicher Ehrung ist vor einigen
Wochen der alte Reichstag vom Kaiser geschlossen worden. Das
war wohl politisch klug und weise und nach der Masse gesetz¬
geberischer Arbeit am Königsplatz auch äußerlich begründet. Und
doch ist noch kein Reichstag aus einander gegangen, der die
Unfruchtbarkeit unsers politischen Volkslebens dem Volke selbst und den Regie¬
rungen so deutlich vor Augen geführt Hütte. Was in erzwungnem Zusammen¬
wirken der Regierungen und des Reichstags in den fünf Jahren Gutes ge¬
leistet worden ist, das wird die Geschichte, die ehrlich ist, auf das Konto der
Regierungen zu bringen haben, und zwar zum großen Teil auf das des Kaisers
allein, der persönlich mit nicht erlahmender Willensstärke und mit klarem Blick
das Steuer geführt und den Dampf gegeben hat. Die hoch geehrten Reichs¬
boten aber haben zu Haus dann aufs neue Dank und Anerkennung geerntet
vom deutschen Volke, dessen Geschäfte sie so meisterlich und aufopfernd geführt
haben, natürlich vor allem in der Opposition gegen den Kaiser und gegen die
Regierungen. Und das deutsche Volk hat den neuen Reichstag gewählt, genau
so zerfahren und undeutsch, wie der alte war. Der Kaiser und das Reich sind
wieder einmal um den Dank des Volks, und das Volk um das Vertrauen
zu Kaiser und Reich geprellt worden.

Es war gewiß ein großes, herrliches Erbe, das der Kaiser vor einem
Jahrzehnt angetreten hat. Aber schwer lastete auf der Erbschaft der Fluch
der unseligen demagogischen Interessenpolitik, die man als einzig wahre Real¬
politik dem deutschen Michel aufgeschwatzt hatte, der Pseudosozialismus in der
Politik, der jedermann den Staatszweck im geschäftlichen Vorteil und Geld¬
gewinn für jedermann zu sehen gelehrt hat, statt allen die Rücksicht ans alle
zu lehren. Er hat ganz natürlich die deutschen Grafen wie die deutschen


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[0009] [Abbildung] Nach der Reichstagswahl it lautem Dank und außerordentlicher Ehrung ist vor einigen Wochen der alte Reichstag vom Kaiser geschlossen worden. Das war wohl politisch klug und weise und nach der Masse gesetz¬ geberischer Arbeit am Königsplatz auch äußerlich begründet. Und doch ist noch kein Reichstag aus einander gegangen, der die Unfruchtbarkeit unsers politischen Volkslebens dem Volke selbst und den Regie¬ rungen so deutlich vor Augen geführt Hütte. Was in erzwungnem Zusammen¬ wirken der Regierungen und des Reichstags in den fünf Jahren Gutes ge¬ leistet worden ist, das wird die Geschichte, die ehrlich ist, auf das Konto der Regierungen zu bringen haben, und zwar zum großen Teil auf das des Kaisers allein, der persönlich mit nicht erlahmender Willensstärke und mit klarem Blick das Steuer geführt und den Dampf gegeben hat. Die hoch geehrten Reichs¬ boten aber haben zu Haus dann aufs neue Dank und Anerkennung geerntet vom deutschen Volke, dessen Geschäfte sie so meisterlich und aufopfernd geführt haben, natürlich vor allem in der Opposition gegen den Kaiser und gegen die Regierungen. Und das deutsche Volk hat den neuen Reichstag gewählt, genau so zerfahren und undeutsch, wie der alte war. Der Kaiser und das Reich sind wieder einmal um den Dank des Volks, und das Volk um das Vertrauen zu Kaiser und Reich geprellt worden. Es war gewiß ein großes, herrliches Erbe, das der Kaiser vor einem Jahrzehnt angetreten hat. Aber schwer lastete auf der Erbschaft der Fluch der unseligen demagogischen Interessenpolitik, die man als einzig wahre Real¬ politik dem deutschen Michel aufgeschwatzt hatte, der Pseudosozialismus in der Politik, der jedermann den Staatszweck im geschäftlichen Vorteil und Geld¬ gewinn für jedermann zu sehen gelehrt hat, statt allen die Rücksicht ans alle zu lehren. Er hat ganz natürlich die deutschen Grafen wie die deutschen Grenzboten III 1898 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/9>, abgerufen am 29.04.2024.