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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

und Amtsgenossen sind auch die Gerichtspräsidenten, die zusammen kein Kollegium
bilden, und die römischen Konsuln waren welche, die kein Kollegium bilden konnten,
weil ihnen der dritte fehlte. Kollege kann keiner sein, der nicht ein Staats- oder
Kvmmunalamt hat.


Eine Verdeutschung Verlainischer Gedichte.

Wenn man unter einem
Dekadenten einen Menschen versteht, der gleich dem jüngst verstorbnen Mallarmö
baren Unsinn drucken läßt, so gehört Paul Verlaine nicht zu dieser Klasse von
"Dichtern," denn er ist ein wirklicher Dichter. Versteht man aber darunter einen
Dichter, der an seiner Natur zu Grunde geht, so darf mau den Begriff des
Decadententums nicht auf Erscheinungen des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts
beschränken, denn unglückliche Genies hat es in allen Jahrhunderten gegeben. Ihre
verhältnismäßig große Anzahl und der Umstand, daß selbstverständlich jedes Genie,
auch das erfolgreiche, im Fühlen, Denken und Leben vom Durchschnitt abweicht,
hat ja Veranlassung zu der gar nicht neuen, aber von Lombroso neu ausstaffirter
Ansicht gegeben, daß Genie eigentlich Wahnsinn sei. Jedenfalls ist das Pathos
das, was sein Name so gut wie das deutsche Wort Leidenschaft besagt, ein Leiden,
also ein Krankheitszustand, und in Rücksicht darauf hat auch Heine recht mit dem
Ausspruch, eigentlich sei doch erst der kranke Mensch der vollkommne Mensch; ein
schiefer und leicht mißzuverstehender Ausdruck der Wahrheit, daß sich der Mensch
in allen möglichen Lagen und Zuständen befunden haben und namentlich anch krank
gewesen sein müsse, wenn alles zum Vorschein kommen soll, was in ihm liegt.
Und gerade die höchsten Offenbarungen der Kunst sind ohne tiefes Leid nicht
denkbar. Notwendig ist es dabei nicht, aber leicht möglich, daß Leid und Leiden¬
schaft das Übergewicht gewinnen über Vernunft und Selbstbeherrschung, und daß
der mit den gefährlichen Gaben zarter, inniger Empfindung, leichter Reizbarkeit
und lebhafter Phantasie Begnadigte im Leben Schiffbruch leidet. Haus Kirchner,
der aus Coppüs Auswahl Verlainischer Gedichte eine Auswahl deutsch nachgedichtet
hat,*) charakterisirt in einer kurzen und guten Einleitung den unglücklichen Dichter
vortrefflich, indem er ihn einem kernfaulen Pfirsichbaum in seines Vaters Garten
vergleicht, der die letzten Jahre vor seinem Absterben im Frühjahr durch reiche"
Blütenschmuck und im Herbst durch die Fülle der wundervollsten Früchte entzückt
hat. Als Übersetzungsprobe geben wir Strophen eines Gedichts aus der Zeit,
wo Verlaine fromm und weise -- geworden zu sein wähnte.

Das echte Glück will ich euch singen,
Das aus der Herzensgüte blüht,
Das andre wird der Tod bezwingen,
Die Lust verglüht, der Haß verglüht.
Ich sing vom Glück, das dem beschieden,
Der des Entsagens Kunst erlernte,
Vom heitern goldnen Hochzeitsfrieden,
Der nicht des Sieges blutige Ernte.




") Gedichte von Paul Verlaine, übertragen von Hans Kirchner. Ur. 11W. 1183
der bei Otto Hendel in Halle erscheinenden Bibliothek der Gesmntlittcratur des In- und
Auslandes.
Maßgebliches und Unmaßgebliches

und Amtsgenossen sind auch die Gerichtspräsidenten, die zusammen kein Kollegium
bilden, und die römischen Konsuln waren welche, die kein Kollegium bilden konnten,
weil ihnen der dritte fehlte. Kollege kann keiner sein, der nicht ein Staats- oder
Kvmmunalamt hat.


Eine Verdeutschung Verlainischer Gedichte.

Wenn man unter einem
Dekadenten einen Menschen versteht, der gleich dem jüngst verstorbnen Mallarmö
baren Unsinn drucken läßt, so gehört Paul Verlaine nicht zu dieser Klasse von
„Dichtern," denn er ist ein wirklicher Dichter. Versteht man aber darunter einen
Dichter, der an seiner Natur zu Grunde geht, so darf mau den Begriff des
Decadententums nicht auf Erscheinungen des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts
beschränken, denn unglückliche Genies hat es in allen Jahrhunderten gegeben. Ihre
verhältnismäßig große Anzahl und der Umstand, daß selbstverständlich jedes Genie,
auch das erfolgreiche, im Fühlen, Denken und Leben vom Durchschnitt abweicht,
hat ja Veranlassung zu der gar nicht neuen, aber von Lombroso neu ausstaffirter
Ansicht gegeben, daß Genie eigentlich Wahnsinn sei. Jedenfalls ist das Pathos
das, was sein Name so gut wie das deutsche Wort Leidenschaft besagt, ein Leiden,
also ein Krankheitszustand, und in Rücksicht darauf hat auch Heine recht mit dem
Ausspruch, eigentlich sei doch erst der kranke Mensch der vollkommne Mensch; ein
schiefer und leicht mißzuverstehender Ausdruck der Wahrheit, daß sich der Mensch
in allen möglichen Lagen und Zuständen befunden haben und namentlich anch krank
gewesen sein müsse, wenn alles zum Vorschein kommen soll, was in ihm liegt.
Und gerade die höchsten Offenbarungen der Kunst sind ohne tiefes Leid nicht
denkbar. Notwendig ist es dabei nicht, aber leicht möglich, daß Leid und Leiden¬
schaft das Übergewicht gewinnen über Vernunft und Selbstbeherrschung, und daß
der mit den gefährlichen Gaben zarter, inniger Empfindung, leichter Reizbarkeit
und lebhafter Phantasie Begnadigte im Leben Schiffbruch leidet. Haus Kirchner,
der aus Coppüs Auswahl Verlainischer Gedichte eine Auswahl deutsch nachgedichtet
hat,*) charakterisirt in einer kurzen und guten Einleitung den unglücklichen Dichter
vortrefflich, indem er ihn einem kernfaulen Pfirsichbaum in seines Vaters Garten
vergleicht, der die letzten Jahre vor seinem Absterben im Frühjahr durch reiche»
Blütenschmuck und im Herbst durch die Fülle der wundervollsten Früchte entzückt
hat. Als Übersetzungsprobe geben wir Strophen eines Gedichts aus der Zeit,
wo Verlaine fromm und weise — geworden zu sein wähnte.

Das echte Glück will ich euch singen,
Das aus der Herzensgüte blüht,
Das andre wird der Tod bezwingen,
Die Lust verglüht, der Haß verglüht.
Ich sing vom Glück, das dem beschieden,
Der des Entsagens Kunst erlernte,
Vom heitern goldnen Hochzeitsfrieden,
Der nicht des Sieges blutige Ernte.




") Gedichte von Paul Verlaine, übertragen von Hans Kirchner. Ur. 11W. 1183
der bei Otto Hendel in Halle erscheinenden Bibliothek der Gesmntlittcratur des In- und
Auslandes.
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[0233] Maßgebliches und Unmaßgebliches und Amtsgenossen sind auch die Gerichtspräsidenten, die zusammen kein Kollegium bilden, und die römischen Konsuln waren welche, die kein Kollegium bilden konnten, weil ihnen der dritte fehlte. Kollege kann keiner sein, der nicht ein Staats- oder Kvmmunalamt hat. Eine Verdeutschung Verlainischer Gedichte. Wenn man unter einem Dekadenten einen Menschen versteht, der gleich dem jüngst verstorbnen Mallarmö baren Unsinn drucken läßt, so gehört Paul Verlaine nicht zu dieser Klasse von „Dichtern," denn er ist ein wirklicher Dichter. Versteht man aber darunter einen Dichter, der an seiner Natur zu Grunde geht, so darf mau den Begriff des Decadententums nicht auf Erscheinungen des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts beschränken, denn unglückliche Genies hat es in allen Jahrhunderten gegeben. Ihre verhältnismäßig große Anzahl und der Umstand, daß selbstverständlich jedes Genie, auch das erfolgreiche, im Fühlen, Denken und Leben vom Durchschnitt abweicht, hat ja Veranlassung zu der gar nicht neuen, aber von Lombroso neu ausstaffirter Ansicht gegeben, daß Genie eigentlich Wahnsinn sei. Jedenfalls ist das Pathos das, was sein Name so gut wie das deutsche Wort Leidenschaft besagt, ein Leiden, also ein Krankheitszustand, und in Rücksicht darauf hat auch Heine recht mit dem Ausspruch, eigentlich sei doch erst der kranke Mensch der vollkommne Mensch; ein schiefer und leicht mißzuverstehender Ausdruck der Wahrheit, daß sich der Mensch in allen möglichen Lagen und Zuständen befunden haben und namentlich anch krank gewesen sein müsse, wenn alles zum Vorschein kommen soll, was in ihm liegt. Und gerade die höchsten Offenbarungen der Kunst sind ohne tiefes Leid nicht denkbar. Notwendig ist es dabei nicht, aber leicht möglich, daß Leid und Leiden¬ schaft das Übergewicht gewinnen über Vernunft und Selbstbeherrschung, und daß der mit den gefährlichen Gaben zarter, inniger Empfindung, leichter Reizbarkeit und lebhafter Phantasie Begnadigte im Leben Schiffbruch leidet. Haus Kirchner, der aus Coppüs Auswahl Verlainischer Gedichte eine Auswahl deutsch nachgedichtet hat,*) charakterisirt in einer kurzen und guten Einleitung den unglücklichen Dichter vortrefflich, indem er ihn einem kernfaulen Pfirsichbaum in seines Vaters Garten vergleicht, der die letzten Jahre vor seinem Absterben im Frühjahr durch reiche» Blütenschmuck und im Herbst durch die Fülle der wundervollsten Früchte entzückt hat. Als Übersetzungsprobe geben wir Strophen eines Gedichts aus der Zeit, wo Verlaine fromm und weise — geworden zu sein wähnte. Das echte Glück will ich euch singen, Das aus der Herzensgüte blüht, Das andre wird der Tod bezwingen, Die Lust verglüht, der Haß verglüht. Ich sing vom Glück, das dem beschieden, Der des Entsagens Kunst erlernte, Vom heitern goldnen Hochzeitsfrieden, Der nicht des Sieges blutige Ernte. ") Gedichte von Paul Verlaine, übertragen von Hans Kirchner. Ur. 11W. 1183 der bei Otto Hendel in Halle erscheinenden Bibliothek der Gesmntlittcratur des In- und Auslandes.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/233>, abgerufen am 01.05.2024.