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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Judentum und Revolution

hatte, in den Händen. Warum das? Einmal, weil die gesellschaftliche Schicht,
die sich durch die Bazare als unmittelbar geschädigt und bedroht ansehen
mußte, nicht mehr vorzugsweise der Handwerkerstand war, sondern weit über¬
wiegend aus Kaufleuten bestand. Diese aber wollen in ihrer großen Mehrheit
-- man kann sagen: durchgängig -- von einer Einschränkung des Prinzips,
worauf die Entwicklung der Bazare beruht, des Prinzips der freien Konkurrenz,
ein für allemal nichts wissen. Sodann gehört es zum Wesen des Großkapitals
-- und gerade darin besteht seine verhängnisvolle Wirkung --, den Besitz
immer mehr unpersönlich zu machen. Während im kleinern und mittlern Be¬
triebe immer ein Unternehmer da ist, der über so und soviel Kapital in be¬
stimmter Weise verfügt, wandelt sich in der Sphäre der großkapitalistischen
Weltwirtschaft das Verhältnis gänzlich um; das Kapital gewinnt gewisser¬
maßen selbständiges Leben, indem es, ohne Rücksicht auf den Eigner, dahin
strebt, wo sich jeweilig die rentabelste Verwendung darzubieten scheint, gleich-
giltig unter welchem Himmelsstrich und in welcher Art von Unternehmungen.
Ohne Zweifel gehört es zu deu wichtigsten Aufgaben des nationalen Staates,
sich die Macht des Großkapitals nicht über den Kopf wachsen zu lassen. Aber
kann es zur Erreichung dieses Ziels auch nur im geringsten beitragen, wenn
etwa die jüdischen Namen der großen Bankfirmen zum Gegenstande des Volks¬
hasses gemacht werden? Bei derartigen agitatorischen Hindeutungen handelt
es sich offenbar in keiner Weise um die legitime Gegenwehr einer wirtschaft¬
lichen Klasse gegen die Übermacht einer andern; was hier das laute Wort
führt, ist die gemeine Neidhammelei des minder Begüterten gegen den Reichen.
Der Antisemitismus sinkt hier hinab auf das niedrige Niveau einer dema¬
gogischen Verhetzung gegen die Aristokratie des Besitzes, und wenn irgend etwas,
so ist diese Art von Judenhetze als "Vorfrucht" der Sozialdemokratie zu be¬
trachten.

Es liegt auf der Hand, daß ein Hereinzerren der Judenfrage in die poli¬
tischen Bestrebungen, die zu Gunsten der selbständigen bürgerlichen Arbeit den
Übergriffen des Großkapitals entgegentreten, in zweckwidriger Weise das Ziel
des Kampfes verdunkelt und verschiebt, also dem Gegner direkt in die Hände
arbeitet.


politisch-nationale Notwehr

Professor Schmoller giebt uns in einer kürzlich veröffentlichten Abhand¬
lung über "Bismarcks sozialpolitische Stellung" ein hübsches Bild von dem
Verhalten des Reichskanzlers zu der Generation hochgebildeter Männer, deren
sehnliches Streben er erfüllt hat, indem er sie mit allen Mitteln der Macht
bekämpfte. "Bei den Beratungen im Staatsrat -- sagt Schmoller -- war der
Haupteindruck für mich der, wie gänzlich wirkungslos die schönsten, auf all¬
gemeinen Theorien aufgebauten Reden von Gneist und andern an ihm ab-


Judentum und Revolution

hatte, in den Händen. Warum das? Einmal, weil die gesellschaftliche Schicht,
die sich durch die Bazare als unmittelbar geschädigt und bedroht ansehen
mußte, nicht mehr vorzugsweise der Handwerkerstand war, sondern weit über¬
wiegend aus Kaufleuten bestand. Diese aber wollen in ihrer großen Mehrheit
— man kann sagen: durchgängig — von einer Einschränkung des Prinzips,
worauf die Entwicklung der Bazare beruht, des Prinzips der freien Konkurrenz,
ein für allemal nichts wissen. Sodann gehört es zum Wesen des Großkapitals
— und gerade darin besteht seine verhängnisvolle Wirkung —, den Besitz
immer mehr unpersönlich zu machen. Während im kleinern und mittlern Be¬
triebe immer ein Unternehmer da ist, der über so und soviel Kapital in be¬
stimmter Weise verfügt, wandelt sich in der Sphäre der großkapitalistischen
Weltwirtschaft das Verhältnis gänzlich um; das Kapital gewinnt gewisser¬
maßen selbständiges Leben, indem es, ohne Rücksicht auf den Eigner, dahin
strebt, wo sich jeweilig die rentabelste Verwendung darzubieten scheint, gleich-
giltig unter welchem Himmelsstrich und in welcher Art von Unternehmungen.
Ohne Zweifel gehört es zu deu wichtigsten Aufgaben des nationalen Staates,
sich die Macht des Großkapitals nicht über den Kopf wachsen zu lassen. Aber
kann es zur Erreichung dieses Ziels auch nur im geringsten beitragen, wenn
etwa die jüdischen Namen der großen Bankfirmen zum Gegenstande des Volks¬
hasses gemacht werden? Bei derartigen agitatorischen Hindeutungen handelt
es sich offenbar in keiner Weise um die legitime Gegenwehr einer wirtschaft¬
lichen Klasse gegen die Übermacht einer andern; was hier das laute Wort
führt, ist die gemeine Neidhammelei des minder Begüterten gegen den Reichen.
Der Antisemitismus sinkt hier hinab auf das niedrige Niveau einer dema¬
gogischen Verhetzung gegen die Aristokratie des Besitzes, und wenn irgend etwas,
so ist diese Art von Judenhetze als „Vorfrucht" der Sozialdemokratie zu be¬
trachten.

Es liegt auf der Hand, daß ein Hereinzerren der Judenfrage in die poli¬
tischen Bestrebungen, die zu Gunsten der selbständigen bürgerlichen Arbeit den
Übergriffen des Großkapitals entgegentreten, in zweckwidriger Weise das Ziel
des Kampfes verdunkelt und verschiebt, also dem Gegner direkt in die Hände
arbeitet.


politisch-nationale Notwehr

Professor Schmoller giebt uns in einer kürzlich veröffentlichten Abhand¬
lung über „Bismarcks sozialpolitische Stellung" ein hübsches Bild von dem
Verhalten des Reichskanzlers zu der Generation hochgebildeter Männer, deren
sehnliches Streben er erfüllt hat, indem er sie mit allen Mitteln der Macht
bekämpfte. „Bei den Beratungen im Staatsrat — sagt Schmoller — war der
Haupteindruck für mich der, wie gänzlich wirkungslos die schönsten, auf all¬
gemeinen Theorien aufgebauten Reden von Gneist und andern an ihm ab-


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[0471] Judentum und Revolution hatte, in den Händen. Warum das? Einmal, weil die gesellschaftliche Schicht, die sich durch die Bazare als unmittelbar geschädigt und bedroht ansehen mußte, nicht mehr vorzugsweise der Handwerkerstand war, sondern weit über¬ wiegend aus Kaufleuten bestand. Diese aber wollen in ihrer großen Mehrheit — man kann sagen: durchgängig — von einer Einschränkung des Prinzips, worauf die Entwicklung der Bazare beruht, des Prinzips der freien Konkurrenz, ein für allemal nichts wissen. Sodann gehört es zum Wesen des Großkapitals — und gerade darin besteht seine verhängnisvolle Wirkung —, den Besitz immer mehr unpersönlich zu machen. Während im kleinern und mittlern Be¬ triebe immer ein Unternehmer da ist, der über so und soviel Kapital in be¬ stimmter Weise verfügt, wandelt sich in der Sphäre der großkapitalistischen Weltwirtschaft das Verhältnis gänzlich um; das Kapital gewinnt gewisser¬ maßen selbständiges Leben, indem es, ohne Rücksicht auf den Eigner, dahin strebt, wo sich jeweilig die rentabelste Verwendung darzubieten scheint, gleich- giltig unter welchem Himmelsstrich und in welcher Art von Unternehmungen. Ohne Zweifel gehört es zu deu wichtigsten Aufgaben des nationalen Staates, sich die Macht des Großkapitals nicht über den Kopf wachsen zu lassen. Aber kann es zur Erreichung dieses Ziels auch nur im geringsten beitragen, wenn etwa die jüdischen Namen der großen Bankfirmen zum Gegenstande des Volks¬ hasses gemacht werden? Bei derartigen agitatorischen Hindeutungen handelt es sich offenbar in keiner Weise um die legitime Gegenwehr einer wirtschaft¬ lichen Klasse gegen die Übermacht einer andern; was hier das laute Wort führt, ist die gemeine Neidhammelei des minder Begüterten gegen den Reichen. Der Antisemitismus sinkt hier hinab auf das niedrige Niveau einer dema¬ gogischen Verhetzung gegen die Aristokratie des Besitzes, und wenn irgend etwas, so ist diese Art von Judenhetze als „Vorfrucht" der Sozialdemokratie zu be¬ trachten. Es liegt auf der Hand, daß ein Hereinzerren der Judenfrage in die poli¬ tischen Bestrebungen, die zu Gunsten der selbständigen bürgerlichen Arbeit den Übergriffen des Großkapitals entgegentreten, in zweckwidriger Weise das Ziel des Kampfes verdunkelt und verschiebt, also dem Gegner direkt in die Hände arbeitet. politisch-nationale Notwehr Professor Schmoller giebt uns in einer kürzlich veröffentlichten Abhand¬ lung über „Bismarcks sozialpolitische Stellung" ein hübsches Bild von dem Verhalten des Reichskanzlers zu der Generation hochgebildeter Männer, deren sehnliches Streben er erfüllt hat, indem er sie mit allen Mitteln der Macht bekämpfte. „Bei den Beratungen im Staatsrat — sagt Schmoller — war der Haupteindruck für mich der, wie gänzlich wirkungslos die schönsten, auf all¬ gemeinen Theorien aufgebauten Reden von Gneist und andern an ihm ab-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/471>, abgerufen am 01.05.2024.