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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Der goldne Lngel

leichtfertiges, faules und eitles Töchterchen, der sächsisch redende Kellner, der
hausierende Jude, der stupide Stallknecht u. s. f. Unter allen nicht ein einziger
Mensch, mit dem wir im Leben ohne triftigen Grund länger als eine Viertel¬
stunde zusammen sein möchten, im ganzen Stück nicht ein einziger Gedanke,
der uns zu fesseln oder zu beschäftigen vermöchte, nicht eine einzige Regung
der Seele, die in uns nachklänge, sobald der Vorhang gefallen ist. Und
damit sollte sich das deutsche Volk beschäftigen, einen ganzen Theaterabend
lang, oder gar noch länger? Das sollte wirklich echte Kunst sein?

Wenn Schlenthers Buch über Gerhart Hauptmann die zweite Auflage
erlebt, fo wird er sich auch darüber äußern müssen. Wir sind gespannt, ob
er den Mut finden wird, auch diese Frage zu bejahen.




Der goldne Gngel
Luise Glaß Erzählung von
(Fortsetzung)

in andern Morgen verschliefen sich alle drei, aber Line war doch
schon mit Kaffeetisch, Kuchen und Blumenstrauß bereit, als das Ge¬
burtstagskind endlich übernächtig, blaß in die Küche trat. Sie um¬
faßte Karl, küßte ihn auf die Stirn, sagte: Auf ein gutes gesegnetes
Jahr! und schenkte ihm ein.

Sie hatte aber keine Festtagsruhe, stand zeitig auf, ordnete in
der Vorderstube einen Tisch fürs Abendbrot, ging zurück, sagte Karl, daß er in
der Werkstatt wegräumen müsse, was nicht verstanden dürfe, von wegen des
Mßchens, das da drüben getrunken werden solle, ging ab und zu, bis der Vater
kam, eilte ins Schlafzimmer, da Ordnung zu machen, zog drauf ihr bestes Zeug
an und ging.

Wo will sie hin? fragte Stadel, und auf das: Ich weiß uicht! des Sohnes
setzte er hinzu: Ist nicht leicht mit der Line, gar nicht, dn kennst sie kaum. Ja ja, ich
weiß schon: tüchtig, fleißig, nimmt alles ernst, auch die Fliege an der Wand und
das Stäubchen in der Luft; weiß schon. Aber der Schwung fehlt, der Flügel.
Fleißig sein -- ja doch, die Ameise ists auch -- machst du dir 'n Vorwurf, wenn
du die Ameise zertrittst, die nur fleißig ist? Vom Menschen verlang ich was mehr.

Damit ging der Alte hinüber in sein Bereich, und Karl blieb zurück mit
schweren Gedanken: Wer die beiden hätte zur Freude, wer die beiden hätte wieder
zusammenbringen können!

Kein Mittel fiel ihm ein.

Line kam spät nach Hause, war wortkarg bei Tisch, und am Nachmittag ging
sie noch einmal. Als sie zurückkam, zeigte sie übergroße Geschäftigkeit, das Ver¬
säumte einzuholen, und erst um die Zeit, wo die Gäste erwartet wurden, nahm sie


Der goldne Lngel

leichtfertiges, faules und eitles Töchterchen, der sächsisch redende Kellner, der
hausierende Jude, der stupide Stallknecht u. s. f. Unter allen nicht ein einziger
Mensch, mit dem wir im Leben ohne triftigen Grund länger als eine Viertel¬
stunde zusammen sein möchten, im ganzen Stück nicht ein einziger Gedanke,
der uns zu fesseln oder zu beschäftigen vermöchte, nicht eine einzige Regung
der Seele, die in uns nachklänge, sobald der Vorhang gefallen ist. Und
damit sollte sich das deutsche Volk beschäftigen, einen ganzen Theaterabend
lang, oder gar noch länger? Das sollte wirklich echte Kunst sein?

Wenn Schlenthers Buch über Gerhart Hauptmann die zweite Auflage
erlebt, fo wird er sich auch darüber äußern müssen. Wir sind gespannt, ob
er den Mut finden wird, auch diese Frage zu bejahen.




Der goldne Gngel
Luise Glaß Erzählung von
(Fortsetzung)

in andern Morgen verschliefen sich alle drei, aber Line war doch
schon mit Kaffeetisch, Kuchen und Blumenstrauß bereit, als das Ge¬
burtstagskind endlich übernächtig, blaß in die Küche trat. Sie um¬
faßte Karl, küßte ihn auf die Stirn, sagte: Auf ein gutes gesegnetes
Jahr! und schenkte ihm ein.

Sie hatte aber keine Festtagsruhe, stand zeitig auf, ordnete in
der Vorderstube einen Tisch fürs Abendbrot, ging zurück, sagte Karl, daß er in
der Werkstatt wegräumen müsse, was nicht verstanden dürfe, von wegen des
Mßchens, das da drüben getrunken werden solle, ging ab und zu, bis der Vater
kam, eilte ins Schlafzimmer, da Ordnung zu machen, zog drauf ihr bestes Zeug
an und ging.

Wo will sie hin? fragte Stadel, und auf das: Ich weiß uicht! des Sohnes
setzte er hinzu: Ist nicht leicht mit der Line, gar nicht, dn kennst sie kaum. Ja ja, ich
weiß schon: tüchtig, fleißig, nimmt alles ernst, auch die Fliege an der Wand und
das Stäubchen in der Luft; weiß schon. Aber der Schwung fehlt, der Flügel.
Fleißig sein — ja doch, die Ameise ists auch — machst du dir 'n Vorwurf, wenn
du die Ameise zertrittst, die nur fleißig ist? Vom Menschen verlang ich was mehr.

Damit ging der Alte hinüber in sein Bereich, und Karl blieb zurück mit
schweren Gedanken: Wer die beiden hätte zur Freude, wer die beiden hätte wieder
zusammenbringen können!

Kein Mittel fiel ihm ein.

Line kam spät nach Hause, war wortkarg bei Tisch, und am Nachmittag ging
sie noch einmal. Als sie zurückkam, zeigte sie übergroße Geschäftigkeit, das Ver¬
säumte einzuholen, und erst um die Zeit, wo die Gäste erwartet wurden, nahm sie


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[0170] Der goldne Lngel leichtfertiges, faules und eitles Töchterchen, der sächsisch redende Kellner, der hausierende Jude, der stupide Stallknecht u. s. f. Unter allen nicht ein einziger Mensch, mit dem wir im Leben ohne triftigen Grund länger als eine Viertel¬ stunde zusammen sein möchten, im ganzen Stück nicht ein einziger Gedanke, der uns zu fesseln oder zu beschäftigen vermöchte, nicht eine einzige Regung der Seele, die in uns nachklänge, sobald der Vorhang gefallen ist. Und damit sollte sich das deutsche Volk beschäftigen, einen ganzen Theaterabend lang, oder gar noch länger? Das sollte wirklich echte Kunst sein? Wenn Schlenthers Buch über Gerhart Hauptmann die zweite Auflage erlebt, fo wird er sich auch darüber äußern müssen. Wir sind gespannt, ob er den Mut finden wird, auch diese Frage zu bejahen. Der goldne Gngel Luise Glaß Erzählung von (Fortsetzung) in andern Morgen verschliefen sich alle drei, aber Line war doch schon mit Kaffeetisch, Kuchen und Blumenstrauß bereit, als das Ge¬ burtstagskind endlich übernächtig, blaß in die Küche trat. Sie um¬ faßte Karl, küßte ihn auf die Stirn, sagte: Auf ein gutes gesegnetes Jahr! und schenkte ihm ein. Sie hatte aber keine Festtagsruhe, stand zeitig auf, ordnete in der Vorderstube einen Tisch fürs Abendbrot, ging zurück, sagte Karl, daß er in der Werkstatt wegräumen müsse, was nicht verstanden dürfe, von wegen des Mßchens, das da drüben getrunken werden solle, ging ab und zu, bis der Vater kam, eilte ins Schlafzimmer, da Ordnung zu machen, zog drauf ihr bestes Zeug an und ging. Wo will sie hin? fragte Stadel, und auf das: Ich weiß uicht! des Sohnes setzte er hinzu: Ist nicht leicht mit der Line, gar nicht, dn kennst sie kaum. Ja ja, ich weiß schon: tüchtig, fleißig, nimmt alles ernst, auch die Fliege an der Wand und das Stäubchen in der Luft; weiß schon. Aber der Schwung fehlt, der Flügel. Fleißig sein — ja doch, die Ameise ists auch — machst du dir 'n Vorwurf, wenn du die Ameise zertrittst, die nur fleißig ist? Vom Menschen verlang ich was mehr. Damit ging der Alte hinüber in sein Bereich, und Karl blieb zurück mit schweren Gedanken: Wer die beiden hätte zur Freude, wer die beiden hätte wieder zusammenbringen können! Kein Mittel fiel ihm ein. Line kam spät nach Hause, war wortkarg bei Tisch, und am Nachmittag ging sie noch einmal. Als sie zurückkam, zeigte sie übergroße Geschäftigkeit, das Ver¬ säumte einzuholen, und erst um die Zeit, wo die Gäste erwartet wurden, nahm sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/170>, abgerufen am 07.05.2024.