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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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kann damit doch andrerseits sehr wohl gerade die entscheidende Einwirkung auf
den innersten Menschen bezeichnet werden und die sichere Gestaltung dieses
innern Menschen, sodaß das Ergebnis Wert vielmehr ist als Zierde, Kon¬
zentration noch mehr als feine Organisation.

Die Poesie soll für die Jugend vor allem das menschliche Seelenleben
schön durchleuchten, seine edelsten Kräfte und seine dunkeln Abgründe enthüllen,
ohne lehrhafte Rede anschauliches Verständnis geben und das in der eignen
Seele schlummernde wecken. Indem sie, und insbesondre die am höchsten
organisierte dramatische Poesie, das Innere der Menschen schauen läßt wie in
einem reinen Spiegel, indem sie nicht Muster, nicht Schablonen vorführt, aber
Typen und Typisches, einen Reichtum an Gestalten und Gefühlen, eine Mannig¬
faltigkeit von Lebenssphären, seelische Kämpfe und Entwicklungen, ringende,
Handelnde, leidende Menschen samt all dem wogenden Leben von Trotz und
Hingebung, von Haß und Liebe, Treue und Undank, Grimm und Reue, List
und Leidenschaft, bietet sie eine Art von unmittelbarer und praktischer Psycho¬
logie; sie läßt zum voraus, vor der Schwelle des vollen Lebens, die Menschen¬
welt in großen Linien schauen, nicht die alltägliche, kleine, die eben nur Ver¬
kümmerung und undurchsichtige Mischung ist; und in der wohlthuenden Har¬
monie des Kunstwerks wird die Sprache der Wahrheit volltönender. Poesie
soll womöglich -- das ist das Höchste, was wir erhoffen -- so in das Innere
dringen, daß es gewissermaßen selbst Poesie werde, ein Herd starken und klaren
und schwungvollen Fühlens, das die vorüberrauschende Zeit der Jugend und
der ihr immanenten Poesie ganz überdauert.

(Schluß folgt)




Der goldne Engel
Luise Glaß Erzählung von
(Fortsetzung)
6

le Wetterschwere lag auch auf dem leeren Kegelschnb; hüben und
drüben, im steinernen Engel und in Ackermanns Schmiede war be¬
fremdliche Stille.

Fräulein Jenny bediente die Apotheke und begriff nicht, was das
heißen sollte, denn sie wußte nicht einmal, daß der goldne Engel,
den sie hatte taufen helfen, so nahe vorm Fliegen stand. nachgerade
war er ihr langweilig geworden, und mit ihm alles, was jenseits der Kannten-


Der goldne Lngel

kann damit doch andrerseits sehr wohl gerade die entscheidende Einwirkung auf
den innersten Menschen bezeichnet werden und die sichere Gestaltung dieses
innern Menschen, sodaß das Ergebnis Wert vielmehr ist als Zierde, Kon¬
zentration noch mehr als feine Organisation.

Die Poesie soll für die Jugend vor allem das menschliche Seelenleben
schön durchleuchten, seine edelsten Kräfte und seine dunkeln Abgründe enthüllen,
ohne lehrhafte Rede anschauliches Verständnis geben und das in der eignen
Seele schlummernde wecken. Indem sie, und insbesondre die am höchsten
organisierte dramatische Poesie, das Innere der Menschen schauen läßt wie in
einem reinen Spiegel, indem sie nicht Muster, nicht Schablonen vorführt, aber
Typen und Typisches, einen Reichtum an Gestalten und Gefühlen, eine Mannig¬
faltigkeit von Lebenssphären, seelische Kämpfe und Entwicklungen, ringende,
Handelnde, leidende Menschen samt all dem wogenden Leben von Trotz und
Hingebung, von Haß und Liebe, Treue und Undank, Grimm und Reue, List
und Leidenschaft, bietet sie eine Art von unmittelbarer und praktischer Psycho¬
logie; sie läßt zum voraus, vor der Schwelle des vollen Lebens, die Menschen¬
welt in großen Linien schauen, nicht die alltägliche, kleine, die eben nur Ver¬
kümmerung und undurchsichtige Mischung ist; und in der wohlthuenden Har¬
monie des Kunstwerks wird die Sprache der Wahrheit volltönender. Poesie
soll womöglich — das ist das Höchste, was wir erhoffen — so in das Innere
dringen, daß es gewissermaßen selbst Poesie werde, ein Herd starken und klaren
und schwungvollen Fühlens, das die vorüberrauschende Zeit der Jugend und
der ihr immanenten Poesie ganz überdauert.

(Schluß folgt)




Der goldne Engel
Luise Glaß Erzählung von
(Fortsetzung)
6

le Wetterschwere lag auch auf dem leeren Kegelschnb; hüben und
drüben, im steinernen Engel und in Ackermanns Schmiede war be¬
fremdliche Stille.

Fräulein Jenny bediente die Apotheke und begriff nicht, was das
heißen sollte, denn sie wußte nicht einmal, daß der goldne Engel,
den sie hatte taufen helfen, so nahe vorm Fliegen stand. nachgerade
war er ihr langweilig geworden, und mit ihm alles, was jenseits der Kannten-


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[0398] Der goldne Lngel kann damit doch andrerseits sehr wohl gerade die entscheidende Einwirkung auf den innersten Menschen bezeichnet werden und die sichere Gestaltung dieses innern Menschen, sodaß das Ergebnis Wert vielmehr ist als Zierde, Kon¬ zentration noch mehr als feine Organisation. Die Poesie soll für die Jugend vor allem das menschliche Seelenleben schön durchleuchten, seine edelsten Kräfte und seine dunkeln Abgründe enthüllen, ohne lehrhafte Rede anschauliches Verständnis geben und das in der eignen Seele schlummernde wecken. Indem sie, und insbesondre die am höchsten organisierte dramatische Poesie, das Innere der Menschen schauen läßt wie in einem reinen Spiegel, indem sie nicht Muster, nicht Schablonen vorführt, aber Typen und Typisches, einen Reichtum an Gestalten und Gefühlen, eine Mannig¬ faltigkeit von Lebenssphären, seelische Kämpfe und Entwicklungen, ringende, Handelnde, leidende Menschen samt all dem wogenden Leben von Trotz und Hingebung, von Haß und Liebe, Treue und Undank, Grimm und Reue, List und Leidenschaft, bietet sie eine Art von unmittelbarer und praktischer Psycho¬ logie; sie läßt zum voraus, vor der Schwelle des vollen Lebens, die Menschen¬ welt in großen Linien schauen, nicht die alltägliche, kleine, die eben nur Ver¬ kümmerung und undurchsichtige Mischung ist; und in der wohlthuenden Har¬ monie des Kunstwerks wird die Sprache der Wahrheit volltönender. Poesie soll womöglich — das ist das Höchste, was wir erhoffen — so in das Innere dringen, daß es gewissermaßen selbst Poesie werde, ein Herd starken und klaren und schwungvollen Fühlens, das die vorüberrauschende Zeit der Jugend und der ihr immanenten Poesie ganz überdauert. (Schluß folgt) Der goldne Engel Luise Glaß Erzählung von (Fortsetzung) 6 le Wetterschwere lag auch auf dem leeren Kegelschnb; hüben und drüben, im steinernen Engel und in Ackermanns Schmiede war be¬ fremdliche Stille. Fräulein Jenny bediente die Apotheke und begriff nicht, was das heißen sollte, denn sie wußte nicht einmal, daß der goldne Engel, den sie hatte taufen helfen, so nahe vorm Fliegen stand. nachgerade war er ihr langweilig geworden, und mit ihm alles, was jenseits der Kannten-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/398>, abgerufen am 07.05.2024.