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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Der goldne Lngel

mut und dem Kraftgefichl ein Malß setzte. Bis zuletzt flößte ihm die Verherrlichung
des gebrochnen Menschen in der litterarischen Decadence einen entschiednen Wider¬
willen ein, er forderte, wo nicht Krankheit den Willen beugte und zerrieb, vom
Einzelnen die seinen Verhältnissen entsprechende Wiedercinfrichtuug und höchste
Widerstandskraft. In eine Zeit, die keine Individuen mehr kennt, sondern nur
Typen und Massen, hätte er nicht hineingepaßt; aber er mochte auch niemals glmibeu,
daß solche Zeiten kamen, und meinte lachend, daß ein einziger genialer Satiriker
hinreichen würde, ihren ganzen Druck abzuschütteln.

Es ist möglich und würde nur zu billigen sein, daß aus seinem Nachlaß eine
Anzahl vortrefflicher zerstreuter Aufsätze und Reden gesammelt und veröffentlicht
wird. Viel willkommner lind wertvoller wäre es dennoch, wenn einige derer, die
ihn gekannt haben, ihre Eindrücke und Erinnerungen an die lichte, lebensvolle
Gestalt festhalten wollten, wie es hier versucht ist. Denn ich sage noch einmal,
ich denke nicht gering von seinen litterarischen Arbeiten und freue mich, daß sich
das Buch "Ernst Rietschel" fort und fort behauptet. Aber daß der Mensch über
dem Rechtsgelehrten, dem Anwalt, dem Schriftsteller und Kunstkritiker stand, ist
nicht mir meine, sondern die Überzeugung eines jeden, der das Glück gehabt, ihn
zu kennen, zu lieben und ein unvergeßliches, wertvolles Stück Leben mit ihm
zu teilen.




Der goldne Engel
Luise Glaß Erzählung von
(Schluß)

le Adresse kam; nach zwei Tagen voll Zögerns und Überlegens, ob
hier eine Pflicht zu thun sei, oder nur ihre alte Überschätzung sich
in Dinge mischen wolle, an die sie nur ein sehr bescheidnes Recht
habe, schrieb Line dem Sammler und wartete mit heißem Herz¬
klopfen acht, vierzehn Tage vergeblich auf Antwort.

Dann stand der Mann plötzlich in ihrer Stube, mitten nnter den
Lehrmädchen, die sich mit Tuscheln und Kichern noch tagelang über den Stutzbart,
das weiße Haar und das rosig frische Gesicht des Fremden verwunderten, der mit
übersprudelnder Rede zwischen Plättbrett und Rohrpuppe vordrang und dann Fräulein
Line entzückenderweise beinah drei Stunden lang ihrer Aufsichtspflicht entzog.

Sie haben mir geschrieben? Fräulein Städel, nicht wahr? -- Schön! --
Sie selber? -- Schön! Ich danke. Ein Brief ist immerhin etwas, aber eigentlich
gar nichts. Sehen, sehen ist Hauptsache, Alles, Einziges. -- Zeigen Sie mir! --
Modell? Vielerlei? -- Hin. -- Ich habe noch nichts derart, aber man muß alles
sehen, was man sehen kann. Je vollständiger ich zusammenbringe, wie oft sich die
Menschen in allen Stücken irren mußten, ehe sie das Rechte fanden, desto lehrreicher
für die Mutlosen und die Spötter. Schließlich vermache ich meiner Vaterstadt die
Sammlung, und die Vergnügnngsreisenden werden sie anglotzen und sich wundern


Der goldne Lngel

mut und dem Kraftgefichl ein Malß setzte. Bis zuletzt flößte ihm die Verherrlichung
des gebrochnen Menschen in der litterarischen Decadence einen entschiednen Wider¬
willen ein, er forderte, wo nicht Krankheit den Willen beugte und zerrieb, vom
Einzelnen die seinen Verhältnissen entsprechende Wiedercinfrichtuug und höchste
Widerstandskraft. In eine Zeit, die keine Individuen mehr kennt, sondern nur
Typen und Massen, hätte er nicht hineingepaßt; aber er mochte auch niemals glmibeu,
daß solche Zeiten kamen, und meinte lachend, daß ein einziger genialer Satiriker
hinreichen würde, ihren ganzen Druck abzuschütteln.

Es ist möglich und würde nur zu billigen sein, daß aus seinem Nachlaß eine
Anzahl vortrefflicher zerstreuter Aufsätze und Reden gesammelt und veröffentlicht
wird. Viel willkommner lind wertvoller wäre es dennoch, wenn einige derer, die
ihn gekannt haben, ihre Eindrücke und Erinnerungen an die lichte, lebensvolle
Gestalt festhalten wollten, wie es hier versucht ist. Denn ich sage noch einmal,
ich denke nicht gering von seinen litterarischen Arbeiten und freue mich, daß sich
das Buch „Ernst Rietschel" fort und fort behauptet. Aber daß der Mensch über
dem Rechtsgelehrten, dem Anwalt, dem Schriftsteller und Kunstkritiker stand, ist
nicht mir meine, sondern die Überzeugung eines jeden, der das Glück gehabt, ihn
zu kennen, zu lieben und ein unvergeßliches, wertvolles Stück Leben mit ihm
zu teilen.




Der goldne Engel
Luise Glaß Erzählung von
(Schluß)

le Adresse kam; nach zwei Tagen voll Zögerns und Überlegens, ob
hier eine Pflicht zu thun sei, oder nur ihre alte Überschätzung sich
in Dinge mischen wolle, an die sie nur ein sehr bescheidnes Recht
habe, schrieb Line dem Sammler und wartete mit heißem Herz¬
klopfen acht, vierzehn Tage vergeblich auf Antwort.

Dann stand der Mann plötzlich in ihrer Stube, mitten nnter den
Lehrmädchen, die sich mit Tuscheln und Kichern noch tagelang über den Stutzbart,
das weiße Haar und das rosig frische Gesicht des Fremden verwunderten, der mit
übersprudelnder Rede zwischen Plättbrett und Rohrpuppe vordrang und dann Fräulein
Line entzückenderweise beinah drei Stunden lang ihrer Aufsichtspflicht entzog.

Sie haben mir geschrieben? Fräulein Städel, nicht wahr? — Schön! —
Sie selber? — Schön! Ich danke. Ein Brief ist immerhin etwas, aber eigentlich
gar nichts. Sehen, sehen ist Hauptsache, Alles, Einziges. — Zeigen Sie mir! —
Modell? Vielerlei? — Hin. — Ich habe noch nichts derart, aber man muß alles
sehen, was man sehen kann. Je vollständiger ich zusammenbringe, wie oft sich die
Menschen in allen Stücken irren mußten, ehe sie das Rechte fanden, desto lehrreicher
für die Mutlosen und die Spötter. Schließlich vermache ich meiner Vaterstadt die
Sammlung, und die Vergnügnngsreisenden werden sie anglotzen und sich wundern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/728>, abgerufen am 06.05.2024.