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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

liebes lehren, wie die Philosophen, sondern seine persönliche Auffassung aus¬
drücken, die sich im Laufe der Zeit ändert: zunächst steht ihm z. B. die Natur
nur in einzelnen Teilen über der Kunst, in der allein das Ganze als Voll-
kommnes (Ideal) möglich ist, dann aber giebt er das Ideal auch in der Natur
zu, nur kommt es als Ganzes seltner vor als in der Kunst. Wir sehen also,
wie er von der praktischen Kenntnis seines Gegenstands aus zur größern be¬
grifflichen Klarheit strebt, und auf diesem Wege ist seine Terminologie ent¬
standen. Während man seine berühmten Beschreibungen des Laokoon oder des
Torsos nur noch als Prunkstücke der deutschen Prosa schätzt -- ihre Sprache,
sagt Justi, ist mehr lyrisch als analytisch, und ihre Gedankenverbindungen
sind mehr ästhetisch als archäologisch und technisch --, wird man seinen ein¬
zelnen ästhetischen Formulierungen immer mit Nutzen nachgehn. Sie finden
sich bei Justi angeschlossen an die Behandlung der Winckelmannschen Kunst¬
geschichte und verbunden mit Auszügen aus der englischen Ästhetik (Hogarth,
Burke) im zweiten Kapitel des dritten Bandes. Im ersten Bande sind schon
Wolf und Baumgarten besprochen, sowie die Kunstbücher der Franzosen
(de Piles mit seiner "Malcrwage," Dubos, Batteux) und Hagedorns Betrach¬
tungen über die Malerei. Justis Charakteristiken dieser Bücher und seine Aus¬
züge daraus sind von ungemeiner Klarheit. Dadurch, daß die Teile einer
ästhetischen Theorie immer an Kunstwerke angeschlossen und mit Winckelmanns
eignen Bemühungen um das Verständnis der Kunst verbunden erscheinen,
werden sie lebendiger und brauchbarer für uns als jedes Lehrbuch der Ästhetik.
Es wäre zu wünschen, daß in dieser besten aller deutschen Gelehrtenbiographien
recht fleißig auch von Künstlern gelesen würde, und die Besprechung wollte
zeigen, daß daraus nicht nur über Winckelmann etwas zu lernen ist.


A. P.


Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur
Line Studie (Fortsetzung)
2

raucht es Beweise für alles dies? Für die Unterrichteten sicher
nicht, aber für naive Gemüter, die auch im Zeitalter der Reklame
in viel größerer Zahl vorhanden sind, als man meinen sollte, mag
es gut sein, an eine Reihe von Einzelheiten erinnert zu werden.
Erment sich beim Auftreten der romantischen Schule, der jung¬
deutschen Schriftstellergruppc und der jüngsten Bewegung ein gleicher unwider-


Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

liebes lehren, wie die Philosophen, sondern seine persönliche Auffassung aus¬
drücken, die sich im Laufe der Zeit ändert: zunächst steht ihm z. B. die Natur
nur in einzelnen Teilen über der Kunst, in der allein das Ganze als Voll-
kommnes (Ideal) möglich ist, dann aber giebt er das Ideal auch in der Natur
zu, nur kommt es als Ganzes seltner vor als in der Kunst. Wir sehen also,
wie er von der praktischen Kenntnis seines Gegenstands aus zur größern be¬
grifflichen Klarheit strebt, und auf diesem Wege ist seine Terminologie ent¬
standen. Während man seine berühmten Beschreibungen des Laokoon oder des
Torsos nur noch als Prunkstücke der deutschen Prosa schätzt — ihre Sprache,
sagt Justi, ist mehr lyrisch als analytisch, und ihre Gedankenverbindungen
sind mehr ästhetisch als archäologisch und technisch —, wird man seinen ein¬
zelnen ästhetischen Formulierungen immer mit Nutzen nachgehn. Sie finden
sich bei Justi angeschlossen an die Behandlung der Winckelmannschen Kunst¬
geschichte und verbunden mit Auszügen aus der englischen Ästhetik (Hogarth,
Burke) im zweiten Kapitel des dritten Bandes. Im ersten Bande sind schon
Wolf und Baumgarten besprochen, sowie die Kunstbücher der Franzosen
(de Piles mit seiner „Malcrwage," Dubos, Batteux) und Hagedorns Betrach¬
tungen über die Malerei. Justis Charakteristiken dieser Bücher und seine Aus¬
züge daraus sind von ungemeiner Klarheit. Dadurch, daß die Teile einer
ästhetischen Theorie immer an Kunstwerke angeschlossen und mit Winckelmanns
eignen Bemühungen um das Verständnis der Kunst verbunden erscheinen,
werden sie lebendiger und brauchbarer für uns als jedes Lehrbuch der Ästhetik.
Es wäre zu wünschen, daß in dieser besten aller deutschen Gelehrtenbiographien
recht fleißig auch von Künstlern gelesen würde, und die Besprechung wollte
zeigen, daß daraus nicht nur über Winckelmann etwas zu lernen ist.


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Line Studie (Fortsetzung)
2

raucht es Beweise für alles dies? Für die Unterrichteten sicher
nicht, aber für naive Gemüter, die auch im Zeitalter der Reklame
in viel größerer Zahl vorhanden sind, als man meinen sollte, mag
es gut sein, an eine Reihe von Einzelheiten erinnert zu werden.
Erment sich beim Auftreten der romantischen Schule, der jung¬
deutschen Schriftstellergruppc und der jüngsten Bewegung ein gleicher unwider-


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[0144] Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur liebes lehren, wie die Philosophen, sondern seine persönliche Auffassung aus¬ drücken, die sich im Laufe der Zeit ändert: zunächst steht ihm z. B. die Natur nur in einzelnen Teilen über der Kunst, in der allein das Ganze als Voll- kommnes (Ideal) möglich ist, dann aber giebt er das Ideal auch in der Natur zu, nur kommt es als Ganzes seltner vor als in der Kunst. Wir sehen also, wie er von der praktischen Kenntnis seines Gegenstands aus zur größern be¬ grifflichen Klarheit strebt, und auf diesem Wege ist seine Terminologie ent¬ standen. Während man seine berühmten Beschreibungen des Laokoon oder des Torsos nur noch als Prunkstücke der deutschen Prosa schätzt — ihre Sprache, sagt Justi, ist mehr lyrisch als analytisch, und ihre Gedankenverbindungen sind mehr ästhetisch als archäologisch und technisch —, wird man seinen ein¬ zelnen ästhetischen Formulierungen immer mit Nutzen nachgehn. Sie finden sich bei Justi angeschlossen an die Behandlung der Winckelmannschen Kunst¬ geschichte und verbunden mit Auszügen aus der englischen Ästhetik (Hogarth, Burke) im zweiten Kapitel des dritten Bandes. Im ersten Bande sind schon Wolf und Baumgarten besprochen, sowie die Kunstbücher der Franzosen (de Piles mit seiner „Malcrwage," Dubos, Batteux) und Hagedorns Betrach¬ tungen über die Malerei. Justis Charakteristiken dieser Bücher und seine Aus¬ züge daraus sind von ungemeiner Klarheit. Dadurch, daß die Teile einer ästhetischen Theorie immer an Kunstwerke angeschlossen und mit Winckelmanns eignen Bemühungen um das Verständnis der Kunst verbunden erscheinen, werden sie lebendiger und brauchbarer für uns als jedes Lehrbuch der Ästhetik. Es wäre zu wünschen, daß in dieser besten aller deutschen Gelehrtenbiographien recht fleißig auch von Künstlern gelesen würde, und die Besprechung wollte zeigen, daß daraus nicht nur über Winckelmann etwas zu lernen ist. A. P. Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur Line Studie (Fortsetzung) 2 raucht es Beweise für alles dies? Für die Unterrichteten sicher nicht, aber für naive Gemüter, die auch im Zeitalter der Reklame in viel größerer Zahl vorhanden sind, als man meinen sollte, mag es gut sein, an eine Reihe von Einzelheiten erinnert zu werden. Erment sich beim Auftreten der romantischen Schule, der jung¬ deutschen Schriftstellergruppc und der jüngsten Bewegung ein gleicher unwider-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/144>, abgerufen am 30.04.2024.