Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Die ^treitkräfte Italiens
L. Miller von

eit Italien seine politische Einheit errungen hat. ist verhältnis¬
mäßig eine so kurze Zeit vergangen, daß man heute noch vielfach
von dem "jungen Königreiche" spricht. Und in der That, wer
über die Alpen wandert, nicht bloß zu seinem Vergnügen, sondern
um Land und Leute jenseits kennen zu lernen, der wird alsbald
die Wahrnehmung machen, daß gerade an diesen uralten Stätten der Kultur
alles neu ist. Das heißt, abgesehen von den dort reichlicher als anderswo
vorhandnen Resten des Altertums und des Mittelalters haben alle Einrich¬
tungen des Staates wie der Kommunen den Stempel des Jungen, des Un¬
erprobten. Nicht den Eindruck des Mißglückten oder gar des Mißratnen, nur
den der Entwicklung gewinnen wir. Bei der gewaltigen Verschiedenheit von
Bewohnern und Gegenden des langgestreckten Landes ist dies eine sehr erklär¬
liche Erscheinung. Selbst in Deutschland ist der Unterschied zwischen der nörd¬
lichen und der südlichen Bevölkerung nicht annähernd so groß, wie zwischen
den Piemontesen mit stark gallischer und den Sizilianeru mit griechisch-saraze¬
nischer Mischung. Daher mag es zu einem guten Teile rühren, daß die Um¬
gestaltung des italienischen Staatswesens zu einem Ganzen mit fertigen Ge¬
präge langsam von statten geht, daß die Verschiedenheit der einzelnen Provinzen
auch vor dem Fremden schärfer hervortritt, als bei uns; und daher rührt auch
mancherlei Ungemach, mit dem die Nation hart zu kämpfen hat.

In einer Beziehung aber ist der Sohn des Nordens, wie der des äußersten
Südens wie aus einem Gusse: er fühlt sich dem Auslande gegenüber als
Italiener. Da giebt es keine Römer und Toskaner, keine Lombarden, Piemon¬
tesen und Venezianer, noch weniger Sizilianer, Modenesen, Lucchesen, Parmesen
und wie sie zu Hause und unter sich alle heißen und sich damit necken mögen.
Dieser Thatsache allein, aber auch ganz allein, verdankt der Italiener, dessen
Vaterland fast für ewige Zeiten zum Schauplatz blutiger Händel äußerer und
innerer Feinde bestimmt zu sein schien, einen sast dreißigjährigen Frieden,
länger, als er seit den Tagen der römischen Kaiser der europäischen Mensch¬
heit vergönnt gewesen ist, zu lange vielleicht, um auch allen innern Hader zu
vergessen.

Die Erkenntnis des italienischen Volkes, der feinere Instinkt der roma-




Die ^treitkräfte Italiens
L. Miller von

eit Italien seine politische Einheit errungen hat. ist verhältnis¬
mäßig eine so kurze Zeit vergangen, daß man heute noch vielfach
von dem „jungen Königreiche" spricht. Und in der That, wer
über die Alpen wandert, nicht bloß zu seinem Vergnügen, sondern
um Land und Leute jenseits kennen zu lernen, der wird alsbald
die Wahrnehmung machen, daß gerade an diesen uralten Stätten der Kultur
alles neu ist. Das heißt, abgesehen von den dort reichlicher als anderswo
vorhandnen Resten des Altertums und des Mittelalters haben alle Einrich¬
tungen des Staates wie der Kommunen den Stempel des Jungen, des Un¬
erprobten. Nicht den Eindruck des Mißglückten oder gar des Mißratnen, nur
den der Entwicklung gewinnen wir. Bei der gewaltigen Verschiedenheit von
Bewohnern und Gegenden des langgestreckten Landes ist dies eine sehr erklär¬
liche Erscheinung. Selbst in Deutschland ist der Unterschied zwischen der nörd¬
lichen und der südlichen Bevölkerung nicht annähernd so groß, wie zwischen
den Piemontesen mit stark gallischer und den Sizilianeru mit griechisch-saraze¬
nischer Mischung. Daher mag es zu einem guten Teile rühren, daß die Um¬
gestaltung des italienischen Staatswesens zu einem Ganzen mit fertigen Ge¬
präge langsam von statten geht, daß die Verschiedenheit der einzelnen Provinzen
auch vor dem Fremden schärfer hervortritt, als bei uns; und daher rührt auch
mancherlei Ungemach, mit dem die Nation hart zu kämpfen hat.

In einer Beziehung aber ist der Sohn des Nordens, wie der des äußersten
Südens wie aus einem Gusse: er fühlt sich dem Auslande gegenüber als
Italiener. Da giebt es keine Römer und Toskaner, keine Lombarden, Piemon¬
tesen und Venezianer, noch weniger Sizilianer, Modenesen, Lucchesen, Parmesen
und wie sie zu Hause und unter sich alle heißen und sich damit necken mögen.
Dieser Thatsache allein, aber auch ganz allein, verdankt der Italiener, dessen
Vaterland fast für ewige Zeiten zum Schauplatz blutiger Händel äußerer und
innerer Feinde bestimmt zu sein schien, einen sast dreißigjährigen Frieden,
länger, als er seit den Tagen der römischen Kaiser der europäischen Mensch¬
heit vergönnt gewesen ist, zu lange vielleicht, um auch allen innern Hader zu
vergessen.

Die Erkenntnis des italienischen Volkes, der feinere Instinkt der roma-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0023" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/230455"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341869_230431/figures/grenzboten_341869_230431_230455_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die ^treitkräfte Italiens<lb/><note type="byline"> L. Miller</note> von</head><lb/>
          <p xml:id="ID_31"> eit Italien seine politische Einheit errungen hat. ist verhältnis¬<lb/>
mäßig eine so kurze Zeit vergangen, daß man heute noch vielfach<lb/>
von dem &#x201E;jungen Königreiche" spricht. Und in der That, wer<lb/>
über die Alpen wandert, nicht bloß zu seinem Vergnügen, sondern<lb/>
um Land und Leute jenseits kennen zu lernen, der wird alsbald<lb/>
die Wahrnehmung machen, daß gerade an diesen uralten Stätten der Kultur<lb/>
alles neu ist. Das heißt, abgesehen von den dort reichlicher als anderswo<lb/>
vorhandnen Resten des Altertums und des Mittelalters haben alle Einrich¬<lb/>
tungen des Staates wie der Kommunen den Stempel des Jungen, des Un¬<lb/>
erprobten. Nicht den Eindruck des Mißglückten oder gar des Mißratnen, nur<lb/>
den der Entwicklung gewinnen wir. Bei der gewaltigen Verschiedenheit von<lb/>
Bewohnern und Gegenden des langgestreckten Landes ist dies eine sehr erklär¬<lb/>
liche Erscheinung. Selbst in Deutschland ist der Unterschied zwischen der nörd¬<lb/>
lichen und der südlichen Bevölkerung nicht annähernd so groß, wie zwischen<lb/>
den Piemontesen mit stark gallischer und den Sizilianeru mit griechisch-saraze¬<lb/>
nischer Mischung. Daher mag es zu einem guten Teile rühren, daß die Um¬<lb/>
gestaltung des italienischen Staatswesens zu einem Ganzen mit fertigen Ge¬<lb/>
präge langsam von statten geht, daß die Verschiedenheit der einzelnen Provinzen<lb/>
auch vor dem Fremden schärfer hervortritt, als bei uns; und daher rührt auch<lb/>
mancherlei Ungemach, mit dem die Nation hart zu kämpfen hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_32"> In einer Beziehung aber ist der Sohn des Nordens, wie der des äußersten<lb/>
Südens wie aus einem Gusse: er fühlt sich dem Auslande gegenüber als<lb/>
Italiener. Da giebt es keine Römer und Toskaner, keine Lombarden, Piemon¬<lb/>
tesen und Venezianer, noch weniger Sizilianer, Modenesen, Lucchesen, Parmesen<lb/>
und wie sie zu Hause und unter sich alle heißen und sich damit necken mögen.<lb/>
Dieser Thatsache allein, aber auch ganz allein, verdankt der Italiener, dessen<lb/>
Vaterland fast für ewige Zeiten zum Schauplatz blutiger Händel äußerer und<lb/>
innerer Feinde bestimmt zu sein schien, einen sast dreißigjährigen Frieden,<lb/>
länger, als er seit den Tagen der römischen Kaiser der europäischen Mensch¬<lb/>
heit vergönnt gewesen ist, zu lange vielleicht, um auch allen innern Hader zu<lb/>
vergessen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_33" next="#ID_34"> Die Erkenntnis des italienischen Volkes, der feinere Instinkt der roma-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0023] [Abbildung] Die ^treitkräfte Italiens L. Miller von eit Italien seine politische Einheit errungen hat. ist verhältnis¬ mäßig eine so kurze Zeit vergangen, daß man heute noch vielfach von dem „jungen Königreiche" spricht. Und in der That, wer über die Alpen wandert, nicht bloß zu seinem Vergnügen, sondern um Land und Leute jenseits kennen zu lernen, der wird alsbald die Wahrnehmung machen, daß gerade an diesen uralten Stätten der Kultur alles neu ist. Das heißt, abgesehen von den dort reichlicher als anderswo vorhandnen Resten des Altertums und des Mittelalters haben alle Einrich¬ tungen des Staates wie der Kommunen den Stempel des Jungen, des Un¬ erprobten. Nicht den Eindruck des Mißglückten oder gar des Mißratnen, nur den der Entwicklung gewinnen wir. Bei der gewaltigen Verschiedenheit von Bewohnern und Gegenden des langgestreckten Landes ist dies eine sehr erklär¬ liche Erscheinung. Selbst in Deutschland ist der Unterschied zwischen der nörd¬ lichen und der südlichen Bevölkerung nicht annähernd so groß, wie zwischen den Piemontesen mit stark gallischer und den Sizilianeru mit griechisch-saraze¬ nischer Mischung. Daher mag es zu einem guten Teile rühren, daß die Um¬ gestaltung des italienischen Staatswesens zu einem Ganzen mit fertigen Ge¬ präge langsam von statten geht, daß die Verschiedenheit der einzelnen Provinzen auch vor dem Fremden schärfer hervortritt, als bei uns; und daher rührt auch mancherlei Ungemach, mit dem die Nation hart zu kämpfen hat. In einer Beziehung aber ist der Sohn des Nordens, wie der des äußersten Südens wie aus einem Gusse: er fühlt sich dem Auslande gegenüber als Italiener. Da giebt es keine Römer und Toskaner, keine Lombarden, Piemon¬ tesen und Venezianer, noch weniger Sizilianer, Modenesen, Lucchesen, Parmesen und wie sie zu Hause und unter sich alle heißen und sich damit necken mögen. Dieser Thatsache allein, aber auch ganz allein, verdankt der Italiener, dessen Vaterland fast für ewige Zeiten zum Schauplatz blutiger Händel äußerer und innerer Feinde bestimmt zu sein schien, einen sast dreißigjährigen Frieden, länger, als er seit den Tagen der römischen Kaiser der europäischen Mensch¬ heit vergönnt gewesen ist, zu lange vielleicht, um auch allen innern Hader zu vergessen. Die Erkenntnis des italienischen Volkes, der feinere Instinkt der roma-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/23
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/23>, abgerufen am 30.04.2024.