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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Die Reformfähigkeit der Türkei

le Zukunft der Türkei hat in neuster Zeit wieder einmal viel
Köpfe und Federn in lebhafte Bewegung gesetzt. Zu den hervor¬
ragendsten und sachkundigsten Kritikern gehören zwei Männer,
die -- beide auf eine vierzigjährige Erfahrung fußend, Männer
von Urteil, Welt- und Menschenkenntnis -- doch zu völlig ent¬
gegengesetzten Resultaten kommen. Der eine ist der Herzog von Argyll, ein
Staatsmann, der sich auch auf wissenschaftlichem Gebiete, in Theologie, Sozio¬
logie und Naturwissenschaft einen geachteten Namen errungen hat. Der Herzog
hat sein Urteil in einer politischen Schrift niedergelegt, die den Titel führt:
"Unsre Verantwortlichkeit für die Türkei, Thatsachen und Erinnerungen von
vierzig Jahren" (London, 1896). Der Herzog bekennt darin sein aufrichtiges
Bedauern, die Meinung geteilt zu haben, daß eine Regeneration der Türkei
und ein zivilisiertes Dasein der christlichen Unterthanen des Sultans möglich
sei, und sucht nunmehr zu beweisen: erstens, daß es ein Fehler der englischen
Politik gewesen sei, für den Fortbestand des osmanischen Reichs einzutreten;
zweitens, daß man besser die russische Eroberungspolitik hätte gewähren lassen
sollen, und drittens, daß der Glaube an die Refvrmfähigkeit der Türkei und
die Zivilisationsfühigkeit der Türken ein verhängnisvoller Irrtum sei.

Diesen Ausführungen des Herzogs von Argyll ist der bekannte Reisende
Vambery in drei Aufsätzen der Kosmopolis vom März, April und Mai 1897
entgegengetreten, in denen er den Beweis zu liefern sucht und auch bringt,
daß die Zivilisation des türkischen Volks in den letzten vierzig Jahren ganz
erstaunliche Fortschritte gemacht habe. Vainbery hat völlig Recht, wenn er
auf Grund seiner Erfahrungen feststellt: erstens, daß das türkische Element
des osmanischen Reichs der Aneignung der abendländischen Kultur keinesfalls
abgeneigt ist; zweitens, daß neben der Neigung auch Fähigkeit dazu vorhanden


Gmizboten II I"M 29


Die Reformfähigkeit der Türkei

le Zukunft der Türkei hat in neuster Zeit wieder einmal viel
Köpfe und Federn in lebhafte Bewegung gesetzt. Zu den hervor¬
ragendsten und sachkundigsten Kritikern gehören zwei Männer,
die — beide auf eine vierzigjährige Erfahrung fußend, Männer
von Urteil, Welt- und Menschenkenntnis — doch zu völlig ent¬
gegengesetzten Resultaten kommen. Der eine ist der Herzog von Argyll, ein
Staatsmann, der sich auch auf wissenschaftlichem Gebiete, in Theologie, Sozio¬
logie und Naturwissenschaft einen geachteten Namen errungen hat. Der Herzog
hat sein Urteil in einer politischen Schrift niedergelegt, die den Titel führt:
„Unsre Verantwortlichkeit für die Türkei, Thatsachen und Erinnerungen von
vierzig Jahren" (London, 1896). Der Herzog bekennt darin sein aufrichtiges
Bedauern, die Meinung geteilt zu haben, daß eine Regeneration der Türkei
und ein zivilisiertes Dasein der christlichen Unterthanen des Sultans möglich
sei, und sucht nunmehr zu beweisen: erstens, daß es ein Fehler der englischen
Politik gewesen sei, für den Fortbestand des osmanischen Reichs einzutreten;
zweitens, daß man besser die russische Eroberungspolitik hätte gewähren lassen
sollen, und drittens, daß der Glaube an die Refvrmfähigkeit der Türkei und
die Zivilisationsfühigkeit der Türken ein verhängnisvoller Irrtum sei.

Diesen Ausführungen des Herzogs von Argyll ist der bekannte Reisende
Vambery in drei Aufsätzen der Kosmopolis vom März, April und Mai 1897
entgegengetreten, in denen er den Beweis zu liefern sucht und auch bringt,
daß die Zivilisation des türkischen Volks in den letzten vierzig Jahren ganz
erstaunliche Fortschritte gemacht habe. Vainbery hat völlig Recht, wenn er
auf Grund seiner Erfahrungen feststellt: erstens, daß das türkische Element
des osmanischen Reichs der Aneignung der abendländischen Kultur keinesfalls
abgeneigt ist; zweitens, daß neben der Neigung auch Fähigkeit dazu vorhanden


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[0233] [Abbildung] Die Reformfähigkeit der Türkei le Zukunft der Türkei hat in neuster Zeit wieder einmal viel Köpfe und Federn in lebhafte Bewegung gesetzt. Zu den hervor¬ ragendsten und sachkundigsten Kritikern gehören zwei Männer, die — beide auf eine vierzigjährige Erfahrung fußend, Männer von Urteil, Welt- und Menschenkenntnis — doch zu völlig ent¬ gegengesetzten Resultaten kommen. Der eine ist der Herzog von Argyll, ein Staatsmann, der sich auch auf wissenschaftlichem Gebiete, in Theologie, Sozio¬ logie und Naturwissenschaft einen geachteten Namen errungen hat. Der Herzog hat sein Urteil in einer politischen Schrift niedergelegt, die den Titel führt: „Unsre Verantwortlichkeit für die Türkei, Thatsachen und Erinnerungen von vierzig Jahren" (London, 1896). Der Herzog bekennt darin sein aufrichtiges Bedauern, die Meinung geteilt zu haben, daß eine Regeneration der Türkei und ein zivilisiertes Dasein der christlichen Unterthanen des Sultans möglich sei, und sucht nunmehr zu beweisen: erstens, daß es ein Fehler der englischen Politik gewesen sei, für den Fortbestand des osmanischen Reichs einzutreten; zweitens, daß man besser die russische Eroberungspolitik hätte gewähren lassen sollen, und drittens, daß der Glaube an die Refvrmfähigkeit der Türkei und die Zivilisationsfühigkeit der Türken ein verhängnisvoller Irrtum sei. Diesen Ausführungen des Herzogs von Argyll ist der bekannte Reisende Vambery in drei Aufsätzen der Kosmopolis vom März, April und Mai 1897 entgegengetreten, in denen er den Beweis zu liefern sucht und auch bringt, daß die Zivilisation des türkischen Volks in den letzten vierzig Jahren ganz erstaunliche Fortschritte gemacht habe. Vainbery hat völlig Recht, wenn er auf Grund seiner Erfahrungen feststellt: erstens, daß das türkische Element des osmanischen Reichs der Aneignung der abendländischen Kultur keinesfalls abgeneigt ist; zweitens, daß neben der Neigung auch Fähigkeit dazu vorhanden Gmizboten II I»M 29

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/233>, abgerufen am 30.04.2024.