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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Deutschland und die Schweiz, Schweizer und Deutsche
Lilie Antwort von einem Schweizer

n der Nummer vom 23. Februar der Grenzboten habe ich mit dem
großen Interesse, das wir Schweizer milan deutschen Äußerungen über
unser Vaterland entgegenbringen, den Artikel über die Empfindlich¬
keit der Schweizer gegen die ausländische, insbesondre die deutsche
Kritik gelesen. Der Verfasser des Artikels spricht mit Achtung von
dem berechtigten Selbstbewußtsein der Schweizer, bedauert dann aber,
daß es bisweilen in eine durchaus unzulässige Empfindlichkeit ausarte. Der
Schweizer nehme allem Ausländischen gegenüber keine wohlwollende Haltung ein.
Gastfreundschaft kenne er überhaupt nicht, da schließe sich sogar jeder Kanton gegen
den andern ab. Eine völlig unbegründete Animosität beherrsche ferner den Schweizer
nicht nur dem Deutschen Reich, sondern auch einzelnen Dentschen gegenüber.

Diese Behauptungen veranlassen mich nun, eine Antwort zu versuchen. Vor¬
würfe dieser Art, besonders in Bezug auf das Verhältnis zu Deutschland, sind
den Schweizern nicht erst jetzt, sondern schon früher vielfach in der dentschen
Presse und von deutschen Schriftstellern gemacht worden. Vorgänge der letztem
Zeit haben zu einer besonders lebhaften Erörterung der Stellung der Schweizer
zum Deutschen Reich und zu den. einzelnen Deutschen geführt. Ans der deutsche"
Presse hörte ich nun wohl alle die schon oft erhobnen Vorwürfe und Klagen,
nirgends aber sehe ich einen Versuch, das getadelte Benehmen der Schweizer zu
erklären. Einen solchen Versuch wäre man aber doch der Gerechtigkeit schuldig,
wenn auch der französische Spruch: 'tout eomvreuclrv o's8t Wut xarcionnsr keine
volle Geltung beanspruchen darf.

Die Gastlichkeit, diese schönste Eigenschaft aller Kulturvölker also, spricht der
Verfasser des genannten Artikels der Schweiz überhaupt ab. Eine harte, schwere
Anklage. Man hat schon oft, hinweisend auf die Schweiz als politisches Ashl, als
internationales Gasthaus, unser Vaterland das gastlichste der Länder genannt. Nun,
beim Hotelier ist Gastlichkeit nie ein Verdienst, hier gilt ja das alte, böse Wort:
?vint Ä'i"'A<zue, point av Luisso. Wenn aber der Verfasser des Artikels auch im
schweizerischen Ashlrecht kein Verdienst, keine Äußerung der Gastfreundschaft, sondern
nur eine Konsequenz unsrer politischen Einrichtungen sehen will, so ist das ungerecht,
unbegreiflich von einem Deutschen. Waren doch die politischen Flüchtlinge, die die
Schweiz schon beherbergt hat, zu mehr als drei Vierteln Deutsche! Wer nennt all
die Namen ausgezeichneter Deutscher, die verfolgt, gehetzt, in der ungastlichen
Republik Zuflucht, Amt und Brot und zum Teil auch eine zweite Heimat fanden,
Männer wie Snell, Scherr, Freiligrath, Herwegh, Rüstow, Köchlh, Richard Wagner,
Heinrich Simon, Semper, Karl Vogt, Mommsen, Kinkel usw. Gewiß verdanken anch




Deutschland und die Schweiz, Schweizer und Deutsche
Lilie Antwort von einem Schweizer

n der Nummer vom 23. Februar der Grenzboten habe ich mit dem
großen Interesse, das wir Schweizer milan deutschen Äußerungen über
unser Vaterland entgegenbringen, den Artikel über die Empfindlich¬
keit der Schweizer gegen die ausländische, insbesondre die deutsche
Kritik gelesen. Der Verfasser des Artikels spricht mit Achtung von
dem berechtigten Selbstbewußtsein der Schweizer, bedauert dann aber,
daß es bisweilen in eine durchaus unzulässige Empfindlichkeit ausarte. Der
Schweizer nehme allem Ausländischen gegenüber keine wohlwollende Haltung ein.
Gastfreundschaft kenne er überhaupt nicht, da schließe sich sogar jeder Kanton gegen
den andern ab. Eine völlig unbegründete Animosität beherrsche ferner den Schweizer
nicht nur dem Deutschen Reich, sondern auch einzelnen Dentschen gegenüber.

Diese Behauptungen veranlassen mich nun, eine Antwort zu versuchen. Vor¬
würfe dieser Art, besonders in Bezug auf das Verhältnis zu Deutschland, sind
den Schweizern nicht erst jetzt, sondern schon früher vielfach in der dentschen
Presse und von deutschen Schriftstellern gemacht worden. Vorgänge der letztem
Zeit haben zu einer besonders lebhaften Erörterung der Stellung der Schweizer
zum Deutschen Reich und zu den. einzelnen Deutschen geführt. Ans der deutsche»
Presse hörte ich nun wohl alle die schon oft erhobnen Vorwürfe und Klagen,
nirgends aber sehe ich einen Versuch, das getadelte Benehmen der Schweizer zu
erklären. Einen solchen Versuch wäre man aber doch der Gerechtigkeit schuldig,
wenn auch der französische Spruch: 'tout eomvreuclrv o's8t Wut xarcionnsr keine
volle Geltung beanspruchen darf.

Die Gastlichkeit, diese schönste Eigenschaft aller Kulturvölker also, spricht der
Verfasser des genannten Artikels der Schweiz überhaupt ab. Eine harte, schwere
Anklage. Man hat schon oft, hinweisend auf die Schweiz als politisches Ashl, als
internationales Gasthaus, unser Vaterland das gastlichste der Länder genannt. Nun,
beim Hotelier ist Gastlichkeit nie ein Verdienst, hier gilt ja das alte, böse Wort:
?vint Ä'i»'A<zue, point av Luisso. Wenn aber der Verfasser des Artikels auch im
schweizerischen Ashlrecht kein Verdienst, keine Äußerung der Gastfreundschaft, sondern
nur eine Konsequenz unsrer politischen Einrichtungen sehen will, so ist das ungerecht,
unbegreiflich von einem Deutschen. Waren doch die politischen Flüchtlinge, die die
Schweiz schon beherbergt hat, zu mehr als drei Vierteln Deutsche! Wer nennt all
die Namen ausgezeichneter Deutscher, die verfolgt, gehetzt, in der ungastlichen
Republik Zuflucht, Amt und Brot und zum Teil auch eine zweite Heimat fanden,
Männer wie Snell, Scherr, Freiligrath, Herwegh, Rüstow, Köchlh, Richard Wagner,
Heinrich Simon, Semper, Karl Vogt, Mommsen, Kinkel usw. Gewiß verdanken anch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/317>, abgerufen am 30.04.2024.