Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

verschwinden würden. Es ist billig, einseitige Statistiker aufzustellen. Operiert
man dabei mit Pfennigen, statt mit Mark, so kommen noch längere Zahlen¬
reihen heraus, was natürlich solchen Leuten gewaltig imponieren mag, auf die
es die politischen Bauernfänger abgesehen haben.




Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur
Line Studie
1

reimal im Verlauf des zu Ende rinnenden neunzehnten Jahr¬
hunderts hat die deutsche Litteratur neben ihrer natürlichen Ent¬
wicklung, neben der Um- und Neubildung, die sich mit jedem
echt schöpferischen und nicht bloß nachahmenden Talent voll¬
zieht, neben der flachen Verbreiterung, die mit dem Anwachsen
des Publikums zur Masse immer unvermeidlicher wie unbesieglicher geworden
ist, eine litterarische Revolution erlebt, die jedesmal mit dem Anspruch auftrat,
die alleingiltige und alleinseligmachende Lösung aller künstlerischen Probleme,
aller ästhetischen Zweifel zu bringen und jedesmal Probleme und Zweifel
zurückließ. Dreimal -- im ersten, im vierten, im neunten Jahrzehnt -- gewann
es den Anschein, als ob eine Sündflut nicht nur alle Kreatur, die sich nicht
in die Arche einer "neuen" Kunst- und Weltanschauung einpferchen ließ,
sondern auch den ganzen Boden, aus dem die Kreatur gewachsen war, ersäufen
sollte. Zweimal ist die Arche ans dem Berg Ararat aufgelaufen, nachdem
die Wasser verrauscht waren, und Münnlein und Weiblein, die aus ihr hervor¬
gingen, haben statt eines roten oder blauen Bodens doch wieder die grüne
Erde unter ihren Füßen gefunden. Zum drittenmal treibt die Arche auf
wüsten Wogen, die Flut ist im Ablaufen, und die drinnen in der Arche schicken
die Tauben aus, um zu erfahren, daß die Bäume noch immer Zweige und
keine ehernen Spieße treiben. Ohne Bild zu reden: in drei litterarischen
Revolutionen, der romantischen, der jungdeutschen und der jüngstdeutschen,
von denen die letzte gerade in ihrem letzten Stadium angelangt ist, ist eine
ursprünglich völlig berechtigte Bewegung durch fanatische Einseitigkeit, durch
phantastischen Ehrgeiz, durch die in unsrer Litteratur so oft verhängnisvoll
gewordne litterarische Ningbildung und unduldbare Koterieherrschaft weit über
ihr Ziel hinausgeschnellt, zum Träger einer völlig unberechtigten Tyrannis
geworden. Dreimal wurde die Befreiung des künstlerischen Individuums als


Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

verschwinden würden. Es ist billig, einseitige Statistiker aufzustellen. Operiert
man dabei mit Pfennigen, statt mit Mark, so kommen noch längere Zahlen¬
reihen heraus, was natürlich solchen Leuten gewaltig imponieren mag, auf die
es die politischen Bauernfänger abgesehen haben.




Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur
Line Studie
1

reimal im Verlauf des zu Ende rinnenden neunzehnten Jahr¬
hunderts hat die deutsche Litteratur neben ihrer natürlichen Ent¬
wicklung, neben der Um- und Neubildung, die sich mit jedem
echt schöpferischen und nicht bloß nachahmenden Talent voll¬
zieht, neben der flachen Verbreiterung, die mit dem Anwachsen
des Publikums zur Masse immer unvermeidlicher wie unbesieglicher geworden
ist, eine litterarische Revolution erlebt, die jedesmal mit dem Anspruch auftrat,
die alleingiltige und alleinseligmachende Lösung aller künstlerischen Probleme,
aller ästhetischen Zweifel zu bringen und jedesmal Probleme und Zweifel
zurückließ. Dreimal — im ersten, im vierten, im neunten Jahrzehnt — gewann
es den Anschein, als ob eine Sündflut nicht nur alle Kreatur, die sich nicht
in die Arche einer „neuen" Kunst- und Weltanschauung einpferchen ließ,
sondern auch den ganzen Boden, aus dem die Kreatur gewachsen war, ersäufen
sollte. Zweimal ist die Arche ans dem Berg Ararat aufgelaufen, nachdem
die Wasser verrauscht waren, und Münnlein und Weiblein, die aus ihr hervor¬
gingen, haben statt eines roten oder blauen Bodens doch wieder die grüne
Erde unter ihren Füßen gefunden. Zum drittenmal treibt die Arche auf
wüsten Wogen, die Flut ist im Ablaufen, und die drinnen in der Arche schicken
die Tauben aus, um zu erfahren, daß die Bäume noch immer Zweige und
keine ehernen Spieße treiben. Ohne Bild zu reden: in drei litterarischen
Revolutionen, der romantischen, der jungdeutschen und der jüngstdeutschen,
von denen die letzte gerade in ihrem letzten Stadium angelangt ist, ist eine
ursprünglich völlig berechtigte Bewegung durch fanatische Einseitigkeit, durch
phantastischen Ehrgeiz, durch die in unsrer Litteratur so oft verhängnisvoll
gewordne litterarische Ningbildung und unduldbare Koterieherrschaft weit über
ihr Ziel hinausgeschnellt, zum Träger einer völlig unberechtigten Tyrannis
geworden. Dreimal wurde die Befreiung des künstlerischen Individuums als


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0032" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/230464"/>
          <fw type="header" place="top"> Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_68" prev="#ID_67"> verschwinden würden. Es ist billig, einseitige Statistiker aufzustellen. Operiert<lb/>
man dabei mit Pfennigen, statt mit Mark, so kommen noch längere Zahlen¬<lb/>
reihen heraus, was natürlich solchen Leuten gewaltig imponieren mag, auf die<lb/>
es die politischen Bauernfänger abgesehen haben.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur<lb/>
Line Studie<lb/>
1</head><lb/>
          <p xml:id="ID_69" next="#ID_70"> reimal im Verlauf des zu Ende rinnenden neunzehnten Jahr¬<lb/>
hunderts hat die deutsche Litteratur neben ihrer natürlichen Ent¬<lb/>
wicklung, neben der Um- und Neubildung, die sich mit jedem<lb/>
echt schöpferischen und nicht bloß nachahmenden Talent voll¬<lb/>
zieht, neben der flachen Verbreiterung, die mit dem Anwachsen<lb/>
des Publikums zur Masse immer unvermeidlicher wie unbesieglicher geworden<lb/>
ist, eine litterarische Revolution erlebt, die jedesmal mit dem Anspruch auftrat,<lb/>
die alleingiltige und alleinseligmachende Lösung aller künstlerischen Probleme,<lb/>
aller ästhetischen Zweifel zu bringen und jedesmal Probleme und Zweifel<lb/>
zurückließ. Dreimal &#x2014; im ersten, im vierten, im neunten Jahrzehnt &#x2014; gewann<lb/>
es den Anschein, als ob eine Sündflut nicht nur alle Kreatur, die sich nicht<lb/>
in die Arche einer &#x201E;neuen" Kunst- und Weltanschauung einpferchen ließ,<lb/>
sondern auch den ganzen Boden, aus dem die Kreatur gewachsen war, ersäufen<lb/>
sollte. Zweimal ist die Arche ans dem Berg Ararat aufgelaufen, nachdem<lb/>
die Wasser verrauscht waren, und Münnlein und Weiblein, die aus ihr hervor¬<lb/>
gingen, haben statt eines roten oder blauen Bodens doch wieder die grüne<lb/>
Erde unter ihren Füßen gefunden. Zum drittenmal treibt die Arche auf<lb/>
wüsten Wogen, die Flut ist im Ablaufen, und die drinnen in der Arche schicken<lb/>
die Tauben aus, um zu erfahren, daß die Bäume noch immer Zweige und<lb/>
keine ehernen Spieße treiben. Ohne Bild zu reden: in drei litterarischen<lb/>
Revolutionen, der romantischen, der jungdeutschen und der jüngstdeutschen,<lb/>
von denen die letzte gerade in ihrem letzten Stadium angelangt ist, ist eine<lb/>
ursprünglich völlig berechtigte Bewegung durch fanatische Einseitigkeit, durch<lb/>
phantastischen Ehrgeiz, durch die in unsrer Litteratur so oft verhängnisvoll<lb/>
gewordne litterarische Ningbildung und unduldbare Koterieherrschaft weit über<lb/>
ihr Ziel hinausgeschnellt, zum Träger einer völlig unberechtigten Tyrannis<lb/>
geworden. Dreimal wurde die Befreiung des künstlerischen Individuums als</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0032] Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur verschwinden würden. Es ist billig, einseitige Statistiker aufzustellen. Operiert man dabei mit Pfennigen, statt mit Mark, so kommen noch längere Zahlen¬ reihen heraus, was natürlich solchen Leuten gewaltig imponieren mag, auf die es die politischen Bauernfänger abgesehen haben. Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur Line Studie 1 reimal im Verlauf des zu Ende rinnenden neunzehnten Jahr¬ hunderts hat die deutsche Litteratur neben ihrer natürlichen Ent¬ wicklung, neben der Um- und Neubildung, die sich mit jedem echt schöpferischen und nicht bloß nachahmenden Talent voll¬ zieht, neben der flachen Verbreiterung, die mit dem Anwachsen des Publikums zur Masse immer unvermeidlicher wie unbesieglicher geworden ist, eine litterarische Revolution erlebt, die jedesmal mit dem Anspruch auftrat, die alleingiltige und alleinseligmachende Lösung aller künstlerischen Probleme, aller ästhetischen Zweifel zu bringen und jedesmal Probleme und Zweifel zurückließ. Dreimal — im ersten, im vierten, im neunten Jahrzehnt — gewann es den Anschein, als ob eine Sündflut nicht nur alle Kreatur, die sich nicht in die Arche einer „neuen" Kunst- und Weltanschauung einpferchen ließ, sondern auch den ganzen Boden, aus dem die Kreatur gewachsen war, ersäufen sollte. Zweimal ist die Arche ans dem Berg Ararat aufgelaufen, nachdem die Wasser verrauscht waren, und Münnlein und Weiblein, die aus ihr hervor¬ gingen, haben statt eines roten oder blauen Bodens doch wieder die grüne Erde unter ihren Füßen gefunden. Zum drittenmal treibt die Arche auf wüsten Wogen, die Flut ist im Ablaufen, und die drinnen in der Arche schicken die Tauben aus, um zu erfahren, daß die Bäume noch immer Zweige und keine ehernen Spieße treiben. Ohne Bild zu reden: in drei litterarischen Revolutionen, der romantischen, der jungdeutschen und der jüngstdeutschen, von denen die letzte gerade in ihrem letzten Stadium angelangt ist, ist eine ursprünglich völlig berechtigte Bewegung durch fanatische Einseitigkeit, durch phantastischen Ehrgeiz, durch die in unsrer Litteratur so oft verhängnisvoll gewordne litterarische Ningbildung und unduldbare Koterieherrschaft weit über ihr Ziel hinausgeschnellt, zum Träger einer völlig unberechtigten Tyrannis geworden. Dreimal wurde die Befreiung des künstlerischen Individuums als

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/32
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/32>, abgerufen am 30.04.2024.