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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Zur Charakteristik der italienischen Hochrenaissance

Bei der heutigen Verschiedenheit der Ansichten über die göttlichen Dinge,
die in weit größerm Umfange als in Ciceros Zeit bis zur Leugnung Gottes
fortgeschritten ist, kann von Staatsreligion nicht mehr die Rede sein. Der
Einzelne bedarf einer solchen auch nicht; sofern er überhaupt religiöse Beweg¬
gründe und Stützen für seine Moralität nötig hat, gewährt sie ihm das
Christentum, sei es durch feste äußerliche Ordnungen nach katholischer, sei es
durch privates Bibellesen nach protestantischer Art. Dem Staate aber verhilft
der mit den technischen Mitteln der Neuzeit arbeitende büreaukratische und
Militürmechcmismus zu einer Ordnung, die sogar bedeutend fester und sauberer
aussieht als die altrömische. Trotzdem fühlt er sich nicht ganz wohl dabei;
er will, daß dem Volke die Religion erhalten, und soweit sie verloren ist,
wiedergegeben werde. Wie immer er damit zu stände kommen mag, daran ist
vorläufig nicht zu denken, daß sich irgend eines der modernen Völker im Be¬
wußtsein, von der Gottheit auserwählt zu sein, wie ein Mann der Verfolgung
eines großes Ziels widmen werde. Der Versuch einiger Franzosen, mit Hilfe
der zur Schutzpatronin ernannten Jungfrau Maria die Verlorne Weltstellung
wiederzuerobern, mußte an dem durch gallische Spottlust und Impietät ver¬
stärkten modernen Unglauben scheitern, und die Engländer sind ihres eignen
Carls überdrüssig geworden; sie versuchen es nur noch ausnahmsweise, ihre
Gcldspekulationen mit einer vorgegebnen christlichen oder Kulturmission zu be¬
mänteln. Am ehesten wäre eine mächtig wirkende politische Religion noch bei
den Russen möglich, die eben noch gar keine moderne Nation, in allem andern
freilich den alten Römern durchaus unähnlich sind; jedenfalls werden sie ihrem
Zar überall hin gläubig und geduldig folgen, mag er ihnen die Aufpflanzung
des Kreuzes auf die Hagia Sofia oder die Unterjochung aller Mongolen als
die ihnen von Gott gestellte Aufgabe verkündigen.




Zur (Lharakteristik der italienischen Hochrenaissance

or langen Jahren sagte einer unsrer besten ältern Kunstforscher,
Rumohr: "Alle wirklich wertvollen Schulen der alten wie der
neuen Welt haben unleugbar ein eigentümlich örtliches Aussehen.
Zwiefach ist jede Leistung der Kunst von außen bedingt. Einmal
durch die geschichtliche Stellung des Künstlers, dann durch die
örtliche Gestaltentwicklung der Natur, die ihn umgiebt" (1827). Um die Kunst
der Vergangenheit zu versteh", muß also das spätere Geschlecht wissen, wie sie


Grenzboten II 189!" 4"
Zur Charakteristik der italienischen Hochrenaissance

Bei der heutigen Verschiedenheit der Ansichten über die göttlichen Dinge,
die in weit größerm Umfange als in Ciceros Zeit bis zur Leugnung Gottes
fortgeschritten ist, kann von Staatsreligion nicht mehr die Rede sein. Der
Einzelne bedarf einer solchen auch nicht; sofern er überhaupt religiöse Beweg¬
gründe und Stützen für seine Moralität nötig hat, gewährt sie ihm das
Christentum, sei es durch feste äußerliche Ordnungen nach katholischer, sei es
durch privates Bibellesen nach protestantischer Art. Dem Staate aber verhilft
der mit den technischen Mitteln der Neuzeit arbeitende büreaukratische und
Militürmechcmismus zu einer Ordnung, die sogar bedeutend fester und sauberer
aussieht als die altrömische. Trotzdem fühlt er sich nicht ganz wohl dabei;
er will, daß dem Volke die Religion erhalten, und soweit sie verloren ist,
wiedergegeben werde. Wie immer er damit zu stände kommen mag, daran ist
vorläufig nicht zu denken, daß sich irgend eines der modernen Völker im Be¬
wußtsein, von der Gottheit auserwählt zu sein, wie ein Mann der Verfolgung
eines großes Ziels widmen werde. Der Versuch einiger Franzosen, mit Hilfe
der zur Schutzpatronin ernannten Jungfrau Maria die Verlorne Weltstellung
wiederzuerobern, mußte an dem durch gallische Spottlust und Impietät ver¬
stärkten modernen Unglauben scheitern, und die Engländer sind ihres eignen
Carls überdrüssig geworden; sie versuchen es nur noch ausnahmsweise, ihre
Gcldspekulationen mit einer vorgegebnen christlichen oder Kulturmission zu be¬
mänteln. Am ehesten wäre eine mächtig wirkende politische Religion noch bei
den Russen möglich, die eben noch gar keine moderne Nation, in allem andern
freilich den alten Römern durchaus unähnlich sind; jedenfalls werden sie ihrem
Zar überall hin gläubig und geduldig folgen, mag er ihnen die Aufpflanzung
des Kreuzes auf die Hagia Sofia oder die Unterjochung aller Mongolen als
die ihnen von Gott gestellte Aufgabe verkündigen.




Zur (Lharakteristik der italienischen Hochrenaissance

or langen Jahren sagte einer unsrer besten ältern Kunstforscher,
Rumohr: „Alle wirklich wertvollen Schulen der alten wie der
neuen Welt haben unleugbar ein eigentümlich örtliches Aussehen.
Zwiefach ist jede Leistung der Kunst von außen bedingt. Einmal
durch die geschichtliche Stellung des Künstlers, dann durch die
örtliche Gestaltentwicklung der Natur, die ihn umgiebt" (1827). Um die Kunst
der Vergangenheit zu versteh», muß also das spätere Geschlecht wissen, wie sie


Grenzboten II 189!» 4«
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[0369] Zur Charakteristik der italienischen Hochrenaissance Bei der heutigen Verschiedenheit der Ansichten über die göttlichen Dinge, die in weit größerm Umfange als in Ciceros Zeit bis zur Leugnung Gottes fortgeschritten ist, kann von Staatsreligion nicht mehr die Rede sein. Der Einzelne bedarf einer solchen auch nicht; sofern er überhaupt religiöse Beweg¬ gründe und Stützen für seine Moralität nötig hat, gewährt sie ihm das Christentum, sei es durch feste äußerliche Ordnungen nach katholischer, sei es durch privates Bibellesen nach protestantischer Art. Dem Staate aber verhilft der mit den technischen Mitteln der Neuzeit arbeitende büreaukratische und Militürmechcmismus zu einer Ordnung, die sogar bedeutend fester und sauberer aussieht als die altrömische. Trotzdem fühlt er sich nicht ganz wohl dabei; er will, daß dem Volke die Religion erhalten, und soweit sie verloren ist, wiedergegeben werde. Wie immer er damit zu stände kommen mag, daran ist vorläufig nicht zu denken, daß sich irgend eines der modernen Völker im Be¬ wußtsein, von der Gottheit auserwählt zu sein, wie ein Mann der Verfolgung eines großes Ziels widmen werde. Der Versuch einiger Franzosen, mit Hilfe der zur Schutzpatronin ernannten Jungfrau Maria die Verlorne Weltstellung wiederzuerobern, mußte an dem durch gallische Spottlust und Impietät ver¬ stärkten modernen Unglauben scheitern, und die Engländer sind ihres eignen Carls überdrüssig geworden; sie versuchen es nur noch ausnahmsweise, ihre Gcldspekulationen mit einer vorgegebnen christlichen oder Kulturmission zu be¬ mänteln. Am ehesten wäre eine mächtig wirkende politische Religion noch bei den Russen möglich, die eben noch gar keine moderne Nation, in allem andern freilich den alten Römern durchaus unähnlich sind; jedenfalls werden sie ihrem Zar überall hin gläubig und geduldig folgen, mag er ihnen die Aufpflanzung des Kreuzes auf die Hagia Sofia oder die Unterjochung aller Mongolen als die ihnen von Gott gestellte Aufgabe verkündigen. Zur (Lharakteristik der italienischen Hochrenaissance or langen Jahren sagte einer unsrer besten ältern Kunstforscher, Rumohr: „Alle wirklich wertvollen Schulen der alten wie der neuen Welt haben unleugbar ein eigentümlich örtliches Aussehen. Zwiefach ist jede Leistung der Kunst von außen bedingt. Einmal durch die geschichtliche Stellung des Künstlers, dann durch die örtliche Gestaltentwicklung der Natur, die ihn umgiebt" (1827). Um die Kunst der Vergangenheit zu versteh», muß also das spätere Geschlecht wissen, wie sie Grenzboten II 189!» 4«

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/369>, abgerufen am 30.04.2024.