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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Herr Witte als Reformer Rußlands

von Julius Wolf einiges gelernt habe. Es bleibt nun abzuwarten, ob die
sozialdemokratischen Arbeiter Deutschlands auf die Stimme der durch Bernstein
zu ihnen sprechenden Vernunft hören und von ihren Führern den Verzicht auf
alle revolutionären, unpatriotischen und utopischen Phrasen fordern, oder ob
sie sich der von den Pnrtcipäpsten über die Vernunft verhängten Exkommuni¬
kation fügen werden.




Herr Witte als Reformer Rußlands
<L. von der Brugger von

s giebt gegenwärtig kein Land, das für uns Deutsche mehr Recht
auf eine stete und aufmerksame Beobachtung hätte als Rußland.
Denn seit wir, ob mit gutem oder übeln Willen, in die Bahn der
kapitalistisch-industriellen Volkswirtschaft hineingedrängt worden
sind, giebt es nächst der äußern Sicherheit des Reichs keine
größere Sorge sür unsre Staatsleitung, als die um die Sicherung einer leichten
und glatten Herstellung und Verwertung unsrer industriellen Erzeugnisse. Und
hier spielt Rußland sür uns eine Rolle, die von Jahr zu Jahr an Bedeutung
gewinnt, sowohl dadurch, daß seine Handelsbeziehungen zu uns enger werden,
als dadurch, daß sich uns mit seinem Vordringen nach Asien hin mittelbar
ein immer weiteres Handelsgebiet erschließt. Von den innern wirtschaftlichen
Verhültnisfen dieses unsers großen Hinterlandes werden wir in Zukunft mehr
abhängig sein als von der äußern staatlichen Stellung, die wir zu unserm
Nachbar einnehmen werden.

Unter solchen Umständen verdienen die Vorgänge, die mit dem Namen
des Herrn Witte verknüpft sind, zu aller Zeit unsre volle Aufmerksamkeit,
besonders aber jetzt, wo sich dieser hervorragende Finanzmann anschickt, an
Reformen die Hand zu legen, die weit über das finanzielle Gebiet hinausgreifen
und eine Umgestaltung der Grundlagen des Volkslebens selbst anbahnen.

Im Mai 1898 hat sich Herr Witte an seinen kaiserlichen Herrn mit einer
Denkschrift gewandt, worin unter Hinweis auf die sinkende Steuerkraft der
Landbevölkerung des Reichs die Notwendigkeit einer Reform hervorgehoben
wurde, deren Kernpunkt die Abschaffung der gegenwärtigen Form des kom¬
munalen Landbesitzes der Bauern war. Er forderte eine umfassende Er¬
forschung der bestehenden Zustände, auf deren Grund dann die Agrarreform
ausgearbeitet werden sollte. Der Vorschlag fand bei dem jungen Zaren An-


Herr Witte als Reformer Rußlands

von Julius Wolf einiges gelernt habe. Es bleibt nun abzuwarten, ob die
sozialdemokratischen Arbeiter Deutschlands auf die Stimme der durch Bernstein
zu ihnen sprechenden Vernunft hören und von ihren Führern den Verzicht auf
alle revolutionären, unpatriotischen und utopischen Phrasen fordern, oder ob
sie sich der von den Pnrtcipäpsten über die Vernunft verhängten Exkommuni¬
kation fügen werden.




Herr Witte als Reformer Rußlands
<L. von der Brugger von

s giebt gegenwärtig kein Land, das für uns Deutsche mehr Recht
auf eine stete und aufmerksame Beobachtung hätte als Rußland.
Denn seit wir, ob mit gutem oder übeln Willen, in die Bahn der
kapitalistisch-industriellen Volkswirtschaft hineingedrängt worden
sind, giebt es nächst der äußern Sicherheit des Reichs keine
größere Sorge sür unsre Staatsleitung, als die um die Sicherung einer leichten
und glatten Herstellung und Verwertung unsrer industriellen Erzeugnisse. Und
hier spielt Rußland sür uns eine Rolle, die von Jahr zu Jahr an Bedeutung
gewinnt, sowohl dadurch, daß seine Handelsbeziehungen zu uns enger werden,
als dadurch, daß sich uns mit seinem Vordringen nach Asien hin mittelbar
ein immer weiteres Handelsgebiet erschließt. Von den innern wirtschaftlichen
Verhültnisfen dieses unsers großen Hinterlandes werden wir in Zukunft mehr
abhängig sein als von der äußern staatlichen Stellung, die wir zu unserm
Nachbar einnehmen werden.

Unter solchen Umständen verdienen die Vorgänge, die mit dem Namen
des Herrn Witte verknüpft sind, zu aller Zeit unsre volle Aufmerksamkeit,
besonders aber jetzt, wo sich dieser hervorragende Finanzmann anschickt, an
Reformen die Hand zu legen, die weit über das finanzielle Gebiet hinausgreifen
und eine Umgestaltung der Grundlagen des Volkslebens selbst anbahnen.

Im Mai 1898 hat sich Herr Witte an seinen kaiserlichen Herrn mit einer
Denkschrift gewandt, worin unter Hinweis auf die sinkende Steuerkraft der
Landbevölkerung des Reichs die Notwendigkeit einer Reform hervorgehoben
wurde, deren Kernpunkt die Abschaffung der gegenwärtigen Form des kom¬
munalen Landbesitzes der Bauern war. Er forderte eine umfassende Er¬
forschung der bestehenden Zustände, auf deren Grund dann die Agrarreform
ausgearbeitet werden sollte. Der Vorschlag fand bei dem jungen Zaren An-


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[0411] Herr Witte als Reformer Rußlands von Julius Wolf einiges gelernt habe. Es bleibt nun abzuwarten, ob die sozialdemokratischen Arbeiter Deutschlands auf die Stimme der durch Bernstein zu ihnen sprechenden Vernunft hören und von ihren Führern den Verzicht auf alle revolutionären, unpatriotischen und utopischen Phrasen fordern, oder ob sie sich der von den Pnrtcipäpsten über die Vernunft verhängten Exkommuni¬ kation fügen werden. Herr Witte als Reformer Rußlands <L. von der Brugger von s giebt gegenwärtig kein Land, das für uns Deutsche mehr Recht auf eine stete und aufmerksame Beobachtung hätte als Rußland. Denn seit wir, ob mit gutem oder übeln Willen, in die Bahn der kapitalistisch-industriellen Volkswirtschaft hineingedrängt worden sind, giebt es nächst der äußern Sicherheit des Reichs keine größere Sorge sür unsre Staatsleitung, als die um die Sicherung einer leichten und glatten Herstellung und Verwertung unsrer industriellen Erzeugnisse. Und hier spielt Rußland sür uns eine Rolle, die von Jahr zu Jahr an Bedeutung gewinnt, sowohl dadurch, daß seine Handelsbeziehungen zu uns enger werden, als dadurch, daß sich uns mit seinem Vordringen nach Asien hin mittelbar ein immer weiteres Handelsgebiet erschließt. Von den innern wirtschaftlichen Verhültnisfen dieses unsers großen Hinterlandes werden wir in Zukunft mehr abhängig sein als von der äußern staatlichen Stellung, die wir zu unserm Nachbar einnehmen werden. Unter solchen Umständen verdienen die Vorgänge, die mit dem Namen des Herrn Witte verknüpft sind, zu aller Zeit unsre volle Aufmerksamkeit, besonders aber jetzt, wo sich dieser hervorragende Finanzmann anschickt, an Reformen die Hand zu legen, die weit über das finanzielle Gebiet hinausgreifen und eine Umgestaltung der Grundlagen des Volkslebens selbst anbahnen. Im Mai 1898 hat sich Herr Witte an seinen kaiserlichen Herrn mit einer Denkschrift gewandt, worin unter Hinweis auf die sinkende Steuerkraft der Landbevölkerung des Reichs die Notwendigkeit einer Reform hervorgehoben wurde, deren Kernpunkt die Abschaffung der gegenwärtigen Form des kom¬ munalen Landbesitzes der Bauern war. Er forderte eine umfassende Er¬ forschung der bestehenden Zustände, auf deren Grund dann die Agrarreform ausgearbeitet werden sollte. Der Vorschlag fand bei dem jungen Zaren An-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/411>, abgerufen am 30.04.2024.