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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Über Jakob Burckhardt? Griechische Kulturgeschichte

reichlichen Rückblicken auf Homer, den Burckhardt sehr hoch stellt in Bezug auf
reine, sittliche Empfindung und Urbanität des Herzens. "Halten Sie immer
einen Zipfel vom Homer fest," pflegte er seinen Zuhörern zu sagen, wenn sie
sich von ihm verabschiedeten. Das Ganze war gedacht und entworfen für ge¬
bildete junge Männer, die das Land der Griechen noch ein wenig mit der
Seele suchten. Jetzt liegt es zum Teil gedruckt vor für solche, denen daran
gelegen ist, zu wissen, wie Jakob Burckhardt über die Kultur der Griechen
dachte. Ob deren noch viele sein werden außer den Philologen, weiß ich nicht;
jedenfalls werden diese die Hauptleser sein. Ware das Buch von einem andern
geschrieben, so würden sie es ihm vielleicht auf jeder Seite korrigieren. Davor
sichert der große Name, dem gegenüber nun die Beurteilung sehr wohl ins
Gegenteil umschlagen könnte. Was hier versucht werden soll, ist keins von
beiden. Man kann die UnVollkommenheiten eines Buches deutlich empfinden
oder, wenn dies besser ausgedrückt ist, von seinem Verfasser noch etwas andres
erwartet haben, man kann z. B. aufrichtig bedauern, daß ein ausgezeichneter
Mann sich mit diesem oder jenem Abschnitt, den jeder andre auch machen
konnte, seine kostbare Zeit verdorben hat. Darum aber das Werk "einfach zu
ignorieren," wie mein verehrter alter Freund Oeri in diesem Falle empfiehlt,
würde ich doch nicht für richtig halten. Im Gegenteil, man wird noch vieles
daran bewundern und gerade dann am besten sehen tonnen, worin es fruchtbar
ist und anregt, was wir also von Burckhardt zu lernen haben auf einem Ge¬
biete, worauf er selbst gar nicht als ein Lehrer für alle gelten wollte.


2

Es sollen zunächst einige Gedanken Burckhardts über das Staatsleben
der Griechen zusammengestellt werden. Der Grundton ist ernst, ja düster; die
Lichter finden sich erst da ein. wo die Gaben der freien, menschlichen Kultur
sichtbar werden. Die griechische Stadt ist kräftig, aber gewaltsam. Damit sie
leben kann, muß viel Einzelleben zerstört werden. Ihren Interessen gegenüber
ist das Individuum garantielos, namentlich in der Demokratie. Solche Städte
kennen eine ganz andre Sorte von Glück und Unglück als die Städte andrer
Völker und Zeiten, und keine Stadtrepublik des Mittelalters reicht an diesen
Grad des Lebens und Leidens. Die politische Kenntnis, die in den Schriften
der Griechen über die Staatsformen niedergelegt ist, den ersten, die wir be¬
sitzen, ist teuer erkauft mit diesem Leben und Leiden; die Griechen kannten die
Polis, sie hatten sie erlebt. Diese Polis hat durch ihre überspannten Forde¬
rungen die Menschen unglücklich gemacht, aber sie mußte sein, denn ihre Auf¬
gabe war, die griechische Kultur zu tragen und zu schützen, z. B. gegen die
Perser.

Diese Bemerkungen geben nur eine unvollkommne Vorstellung von der
bewegenden Schilderung der gewaltsamen Polis und ihrer grausam nieder-


Über Jakob Burckhardt? Griechische Kulturgeschichte

reichlichen Rückblicken auf Homer, den Burckhardt sehr hoch stellt in Bezug auf
reine, sittliche Empfindung und Urbanität des Herzens. „Halten Sie immer
einen Zipfel vom Homer fest," pflegte er seinen Zuhörern zu sagen, wenn sie
sich von ihm verabschiedeten. Das Ganze war gedacht und entworfen für ge¬
bildete junge Männer, die das Land der Griechen noch ein wenig mit der
Seele suchten. Jetzt liegt es zum Teil gedruckt vor für solche, denen daran
gelegen ist, zu wissen, wie Jakob Burckhardt über die Kultur der Griechen
dachte. Ob deren noch viele sein werden außer den Philologen, weiß ich nicht;
jedenfalls werden diese die Hauptleser sein. Ware das Buch von einem andern
geschrieben, so würden sie es ihm vielleicht auf jeder Seite korrigieren. Davor
sichert der große Name, dem gegenüber nun die Beurteilung sehr wohl ins
Gegenteil umschlagen könnte. Was hier versucht werden soll, ist keins von
beiden. Man kann die UnVollkommenheiten eines Buches deutlich empfinden
oder, wenn dies besser ausgedrückt ist, von seinem Verfasser noch etwas andres
erwartet haben, man kann z. B. aufrichtig bedauern, daß ein ausgezeichneter
Mann sich mit diesem oder jenem Abschnitt, den jeder andre auch machen
konnte, seine kostbare Zeit verdorben hat. Darum aber das Werk „einfach zu
ignorieren," wie mein verehrter alter Freund Oeri in diesem Falle empfiehlt,
würde ich doch nicht für richtig halten. Im Gegenteil, man wird noch vieles
daran bewundern und gerade dann am besten sehen tonnen, worin es fruchtbar
ist und anregt, was wir also von Burckhardt zu lernen haben auf einem Ge¬
biete, worauf er selbst gar nicht als ein Lehrer für alle gelten wollte.


2

Es sollen zunächst einige Gedanken Burckhardts über das Staatsleben
der Griechen zusammengestellt werden. Der Grundton ist ernst, ja düster; die
Lichter finden sich erst da ein. wo die Gaben der freien, menschlichen Kultur
sichtbar werden. Die griechische Stadt ist kräftig, aber gewaltsam. Damit sie
leben kann, muß viel Einzelleben zerstört werden. Ihren Interessen gegenüber
ist das Individuum garantielos, namentlich in der Demokratie. Solche Städte
kennen eine ganz andre Sorte von Glück und Unglück als die Städte andrer
Völker und Zeiten, und keine Stadtrepublik des Mittelalters reicht an diesen
Grad des Lebens und Leidens. Die politische Kenntnis, die in den Schriften
der Griechen über die Staatsformen niedergelegt ist, den ersten, die wir be¬
sitzen, ist teuer erkauft mit diesem Leben und Leiden; die Griechen kannten die
Polis, sie hatten sie erlebt. Diese Polis hat durch ihre überspannten Forde¬
rungen die Menschen unglücklich gemacht, aber sie mußte sein, denn ihre Auf¬
gabe war, die griechische Kultur zu tragen und zu schützen, z. B. gegen die
Perser.

Diese Bemerkungen geben nur eine unvollkommne Vorstellung von der
bewegenden Schilderung der gewaltsamen Polis und ihrer grausam nieder-


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[0043] Über Jakob Burckhardt? Griechische Kulturgeschichte reichlichen Rückblicken auf Homer, den Burckhardt sehr hoch stellt in Bezug auf reine, sittliche Empfindung und Urbanität des Herzens. „Halten Sie immer einen Zipfel vom Homer fest," pflegte er seinen Zuhörern zu sagen, wenn sie sich von ihm verabschiedeten. Das Ganze war gedacht und entworfen für ge¬ bildete junge Männer, die das Land der Griechen noch ein wenig mit der Seele suchten. Jetzt liegt es zum Teil gedruckt vor für solche, denen daran gelegen ist, zu wissen, wie Jakob Burckhardt über die Kultur der Griechen dachte. Ob deren noch viele sein werden außer den Philologen, weiß ich nicht; jedenfalls werden diese die Hauptleser sein. Ware das Buch von einem andern geschrieben, so würden sie es ihm vielleicht auf jeder Seite korrigieren. Davor sichert der große Name, dem gegenüber nun die Beurteilung sehr wohl ins Gegenteil umschlagen könnte. Was hier versucht werden soll, ist keins von beiden. Man kann die UnVollkommenheiten eines Buches deutlich empfinden oder, wenn dies besser ausgedrückt ist, von seinem Verfasser noch etwas andres erwartet haben, man kann z. B. aufrichtig bedauern, daß ein ausgezeichneter Mann sich mit diesem oder jenem Abschnitt, den jeder andre auch machen konnte, seine kostbare Zeit verdorben hat. Darum aber das Werk „einfach zu ignorieren," wie mein verehrter alter Freund Oeri in diesem Falle empfiehlt, würde ich doch nicht für richtig halten. Im Gegenteil, man wird noch vieles daran bewundern und gerade dann am besten sehen tonnen, worin es fruchtbar ist und anregt, was wir also von Burckhardt zu lernen haben auf einem Ge¬ biete, worauf er selbst gar nicht als ein Lehrer für alle gelten wollte. 2 Es sollen zunächst einige Gedanken Burckhardts über das Staatsleben der Griechen zusammengestellt werden. Der Grundton ist ernst, ja düster; die Lichter finden sich erst da ein. wo die Gaben der freien, menschlichen Kultur sichtbar werden. Die griechische Stadt ist kräftig, aber gewaltsam. Damit sie leben kann, muß viel Einzelleben zerstört werden. Ihren Interessen gegenüber ist das Individuum garantielos, namentlich in der Demokratie. Solche Städte kennen eine ganz andre Sorte von Glück und Unglück als die Städte andrer Völker und Zeiten, und keine Stadtrepublik des Mittelalters reicht an diesen Grad des Lebens und Leidens. Die politische Kenntnis, die in den Schriften der Griechen über die Staatsformen niedergelegt ist, den ersten, die wir be¬ sitzen, ist teuer erkauft mit diesem Leben und Leiden; die Griechen kannten die Polis, sie hatten sie erlebt. Diese Polis hat durch ihre überspannten Forde¬ rungen die Menschen unglücklich gemacht, aber sie mußte sein, denn ihre Auf¬ gabe war, die griechische Kultur zu tragen und zu schützen, z. B. gegen die Perser. Diese Bemerkungen geben nur eine unvollkommne Vorstellung von der bewegenden Schilderung der gewaltsamen Polis und ihrer grausam nieder-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/43>, abgerufen am 30.04.2024.