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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur
Line Studie
(Schluß)
4

er Vergleich so eigentümlicher, in allen drei litterarischen Revolu¬
tionen wiederkehrender Erscheinungen, die scharfe Betonung des
Widersinnigen und der bewußten und unbewußten Täuschungen in
allen revolutionären Kunstprogrammen, der Nachweis, daß die
leidenschaftlichen und einseitigen Versuche, ein paar bevorzugte Vor¬
stellungen an die Stelle von Natur und Welt zu setzen, regelmäßig gescheitert
sind und in aller Zukunft scheitern werden, alles das darf nicht dahin mißver¬
standen werden, als ob damit die wirklichen Leistungen und der Gewinn, den die
deutsche Litteratur auch aus den revolutionären Bewegungen davongetragen hat,
in Abrede gestellt oder vergessen werden sollten. Die Zauber der romantischen
Mürcheupoesie, der wunderbare Nachhall des Naturlauts in der romantischen
Lyrik, die besten politischen Streit-, Kampf- und Zornlieder aus der jung¬
deutschen und der Periode der politischen Poesie, die eigentümlichsten Gestalten
und stimmungsvollsten Zustandsbilder, die dem modernen Naturalismus ge¬
lungen sind, wer möchte sie missen? Oder wer verschließt sich gegen die Wir¬
kungen, die die deutsche Romantik auf außerpoetischen Gebieten hervorgerufen
und mit denen sie einem Dutzend neuer Wissenschaften das Leben gegeben hat?
Wer leugnet, daß die politischen Instinkte und die weltfahrende Betriebsamkeit
der Jungdeutschen zwar nicht der Litteratur, aber der deutschen Publizistik
mannigfach zu gute gekommen sind? Wer verkennt, daß die entschlossenen Zu¬
standsschilderungen und der Wahrheitsfanatismus unsrer Naturalisten den
Sinn aller wirklichen Talente für die Natur gestärkt und das Gewissen gegen
die Sünden der leblosen Überlieferung geschärft hat?

Nicht darum handelt es sich, die unzweifelhafte Bedeutung dieser revolu¬
tionären Schulen oder Gruppen in der Entwicklung unsrer Litteratur herab¬
zudrücken, sondern darum, den von jeder Bewegung jedesmal aufs neue an¬
gemaßten Anspruch: die allein mögliche Wiedergabe der Welt und die allein
fruchtbare Entwicklung vorzustellen, in seine Schranken zu weisen; und darum
den Nachweis zu führen, daß keine wahrhafte Kritik, der es Ernst ist um die
Dichtung oder Kunst, den Fanatismus einer revolutionären Litteratur- oder




Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur
Line Studie
(Schluß)
4

er Vergleich so eigentümlicher, in allen drei litterarischen Revolu¬
tionen wiederkehrender Erscheinungen, die scharfe Betonung des
Widersinnigen und der bewußten und unbewußten Täuschungen in
allen revolutionären Kunstprogrammen, der Nachweis, daß die
leidenschaftlichen und einseitigen Versuche, ein paar bevorzugte Vor¬
stellungen an die Stelle von Natur und Welt zu setzen, regelmäßig gescheitert
sind und in aller Zukunft scheitern werden, alles das darf nicht dahin mißver¬
standen werden, als ob damit die wirklichen Leistungen und der Gewinn, den die
deutsche Litteratur auch aus den revolutionären Bewegungen davongetragen hat,
in Abrede gestellt oder vergessen werden sollten. Die Zauber der romantischen
Mürcheupoesie, der wunderbare Nachhall des Naturlauts in der romantischen
Lyrik, die besten politischen Streit-, Kampf- und Zornlieder aus der jung¬
deutschen und der Periode der politischen Poesie, die eigentümlichsten Gestalten
und stimmungsvollsten Zustandsbilder, die dem modernen Naturalismus ge¬
lungen sind, wer möchte sie missen? Oder wer verschließt sich gegen die Wir¬
kungen, die die deutsche Romantik auf außerpoetischen Gebieten hervorgerufen
und mit denen sie einem Dutzend neuer Wissenschaften das Leben gegeben hat?
Wer leugnet, daß die politischen Instinkte und die weltfahrende Betriebsamkeit
der Jungdeutschen zwar nicht der Litteratur, aber der deutschen Publizistik
mannigfach zu gute gekommen sind? Wer verkennt, daß die entschlossenen Zu¬
standsschilderungen und der Wahrheitsfanatismus unsrer Naturalisten den
Sinn aller wirklichen Talente für die Natur gestärkt und das Gewissen gegen
die Sünden der leblosen Überlieferung geschärft hat?

Nicht darum handelt es sich, die unzweifelhafte Bedeutung dieser revolu¬
tionären Schulen oder Gruppen in der Entwicklung unsrer Litteratur herab¬
zudrücken, sondern darum, den von jeder Bewegung jedesmal aufs neue an¬
gemaßten Anspruch: die allein mögliche Wiedergabe der Welt und die allein
fruchtbare Entwicklung vorzustellen, in seine Schranken zu weisen; und darum
den Nachweis zu führen, daß keine wahrhafte Kritik, der es Ernst ist um die
Dichtung oder Kunst, den Fanatismus einer revolutionären Litteratur- oder


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[0480] [Abbildung] Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur Line Studie (Schluß) 4 er Vergleich so eigentümlicher, in allen drei litterarischen Revolu¬ tionen wiederkehrender Erscheinungen, die scharfe Betonung des Widersinnigen und der bewußten und unbewußten Täuschungen in allen revolutionären Kunstprogrammen, der Nachweis, daß die leidenschaftlichen und einseitigen Versuche, ein paar bevorzugte Vor¬ stellungen an die Stelle von Natur und Welt zu setzen, regelmäßig gescheitert sind und in aller Zukunft scheitern werden, alles das darf nicht dahin mißver¬ standen werden, als ob damit die wirklichen Leistungen und der Gewinn, den die deutsche Litteratur auch aus den revolutionären Bewegungen davongetragen hat, in Abrede gestellt oder vergessen werden sollten. Die Zauber der romantischen Mürcheupoesie, der wunderbare Nachhall des Naturlauts in der romantischen Lyrik, die besten politischen Streit-, Kampf- und Zornlieder aus der jung¬ deutschen und der Periode der politischen Poesie, die eigentümlichsten Gestalten und stimmungsvollsten Zustandsbilder, die dem modernen Naturalismus ge¬ lungen sind, wer möchte sie missen? Oder wer verschließt sich gegen die Wir¬ kungen, die die deutsche Romantik auf außerpoetischen Gebieten hervorgerufen und mit denen sie einem Dutzend neuer Wissenschaften das Leben gegeben hat? Wer leugnet, daß die politischen Instinkte und die weltfahrende Betriebsamkeit der Jungdeutschen zwar nicht der Litteratur, aber der deutschen Publizistik mannigfach zu gute gekommen sind? Wer verkennt, daß die entschlossenen Zu¬ standsschilderungen und der Wahrheitsfanatismus unsrer Naturalisten den Sinn aller wirklichen Talente für die Natur gestärkt und das Gewissen gegen die Sünden der leblosen Überlieferung geschärft hat? Nicht darum handelt es sich, die unzweifelhafte Bedeutung dieser revolu¬ tionären Schulen oder Gruppen in der Entwicklung unsrer Litteratur herab¬ zudrücken, sondern darum, den von jeder Bewegung jedesmal aufs neue an¬ gemaßten Anspruch: die allein mögliche Wiedergabe der Welt und die allein fruchtbare Entwicklung vorzustellen, in seine Schranken zu weisen; und darum den Nachweis zu führen, daß keine wahrhafte Kritik, der es Ernst ist um die Dichtung oder Kunst, den Fanatismus einer revolutionären Litteratur- oder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/480>, abgerufen am 30.04.2024.