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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Die schöne Hälfte des Lebens

Anrufung der Dämonen, deren Geist auch am Eingang der Beschwörung an¬
gerufen wird; man nimmt daher auch an, daß der Zauberer, der diese Be¬
schwörung für die Domitiana niederschrieb, weder ein Heide noch ein Jude,
sondern ein mit gnostischen Lehren bekannter Christ war.

Bei den eigentlichen Verfluchungen dieser Gattung von Tafeln ist die
Ursache der Verwünschung nicht überall ersichtlich. Bei manchen ist die Liebe,
wie bei der Tafel von Hadrumetum, der Anlaß: so heißt es z. B. in Bezug
auf einen Vitruvius Felix, er solle die Valeria Quadratilla hassen und sie
gänzlich vergessen, und diese (offenbar die begünstigte Nebenbuhlerin der
Schreiberin) solle den Zorn der Götter auf sich laden. In zahlreichen Fällen
(zumal auf deu Tafeln aus Karthago) geht der Fluch gegen Wagenlenker der
konkurrierenden Partei und deren Pferde, worauf wir später uoch zurückkommen;
in andern ist es der Prozeßgegner, der gebunden, dessen Zunge und Sinn ge¬
bannt werde" soll, daß er nichts vorzubringen imstande ist; oder: wie die
Dämonen ohne Sprache und ohne Zunge sind, so soll es auch der Gegner
werden. Mitunter ist die Ursache der Feindschaft nicht angeführt; es heißt
nur, der und der soll der Feind werden von A, der Feind von B usw.,
unter Anführung einer ganzen Menge von Namen; oder: "die Götter sollen
den Betreffenden ergreifen und ihn den Schatten übergeben, damit sie ihm
Fleisch und Sehnen und Glieder und Seele vernichten, sodaß er dem Jonikos
nicht mehr begegnen und ihm nicht durch Rede oder Blick (den "bösen Blick",
das unz.1 ooolrio der heutigen Italiener) schaden kann." Auf eiuer in Rom ge-
fundnen, aber unter dem Einfluß ägyptischer Religion entstandnen Tafel wird
der Verfluchte beschuldigt, den "Papyrou" (nach Wünsch die aus Papiermache
hergestellte Hülle der Mumie) des Osiris angezündet und Fische gegessen zu
haben (das letzte anscheinend eine Versündigung gegen eine rituelle Vorschrift);
durch solche Schuld soll der Gott Osiris bewogen werden, gegen den Gott¬
losen einzuschreiten.

(Schluß folgt)




Die schöne Hälfte des Lebens
Wilhelm Brandes von

Sohn, mehr wünschest du nicht, die Braut in die Kammer zu führen,
Daß dir werde die Nacht zur schönen Hälfte des Lebens,
Und die Arbeit des Tags dir freier und eigener werde,
Als der Unter es wünscht und die Mutter,

Diese Worte, mit denen im vierten Gesänge von Goethes Hermann und
Dorothea die Mutter den Sohn zu beschwichtigen beginnt, nachdem er ihr unter
dem Birnbaum sein Leid geklagt hat, haben wohl von jeher auch bei Verehrern


Die schöne Hälfte des Lebens

Anrufung der Dämonen, deren Geist auch am Eingang der Beschwörung an¬
gerufen wird; man nimmt daher auch an, daß der Zauberer, der diese Be¬
schwörung für die Domitiana niederschrieb, weder ein Heide noch ein Jude,
sondern ein mit gnostischen Lehren bekannter Christ war.

Bei den eigentlichen Verfluchungen dieser Gattung von Tafeln ist die
Ursache der Verwünschung nicht überall ersichtlich. Bei manchen ist die Liebe,
wie bei der Tafel von Hadrumetum, der Anlaß: so heißt es z. B. in Bezug
auf einen Vitruvius Felix, er solle die Valeria Quadratilla hassen und sie
gänzlich vergessen, und diese (offenbar die begünstigte Nebenbuhlerin der
Schreiberin) solle den Zorn der Götter auf sich laden. In zahlreichen Fällen
(zumal auf deu Tafeln aus Karthago) geht der Fluch gegen Wagenlenker der
konkurrierenden Partei und deren Pferde, worauf wir später uoch zurückkommen;
in andern ist es der Prozeßgegner, der gebunden, dessen Zunge und Sinn ge¬
bannt werde» soll, daß er nichts vorzubringen imstande ist; oder: wie die
Dämonen ohne Sprache und ohne Zunge sind, so soll es auch der Gegner
werden. Mitunter ist die Ursache der Feindschaft nicht angeführt; es heißt
nur, der und der soll der Feind werden von A, der Feind von B usw.,
unter Anführung einer ganzen Menge von Namen; oder: „die Götter sollen
den Betreffenden ergreifen und ihn den Schatten übergeben, damit sie ihm
Fleisch und Sehnen und Glieder und Seele vernichten, sodaß er dem Jonikos
nicht mehr begegnen und ihm nicht durch Rede oder Blick (den »bösen Blick«,
das unz.1 ooolrio der heutigen Italiener) schaden kann." Auf eiuer in Rom ge-
fundnen, aber unter dem Einfluß ägyptischer Religion entstandnen Tafel wird
der Verfluchte beschuldigt, den „Papyrou" (nach Wünsch die aus Papiermache
hergestellte Hülle der Mumie) des Osiris angezündet und Fische gegessen zu
haben (das letzte anscheinend eine Versündigung gegen eine rituelle Vorschrift);
durch solche Schuld soll der Gott Osiris bewogen werden, gegen den Gott¬
losen einzuschreiten.

(Schluß folgt)




Die schöne Hälfte des Lebens
Wilhelm Brandes von

Sohn, mehr wünschest du nicht, die Braut in die Kammer zu führen,
Daß dir werde die Nacht zur schönen Hälfte des Lebens,
Und die Arbeit des Tags dir freier und eigener werde,
Als der Unter es wünscht und die Mutter,

Diese Worte, mit denen im vierten Gesänge von Goethes Hermann und
Dorothea die Mutter den Sohn zu beschwichtigen beginnt, nachdem er ihr unter
dem Birnbaum sein Leid geklagt hat, haben wohl von jeher auch bei Verehrern


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[0495] Die schöne Hälfte des Lebens Anrufung der Dämonen, deren Geist auch am Eingang der Beschwörung an¬ gerufen wird; man nimmt daher auch an, daß der Zauberer, der diese Be¬ schwörung für die Domitiana niederschrieb, weder ein Heide noch ein Jude, sondern ein mit gnostischen Lehren bekannter Christ war. Bei den eigentlichen Verfluchungen dieser Gattung von Tafeln ist die Ursache der Verwünschung nicht überall ersichtlich. Bei manchen ist die Liebe, wie bei der Tafel von Hadrumetum, der Anlaß: so heißt es z. B. in Bezug auf einen Vitruvius Felix, er solle die Valeria Quadratilla hassen und sie gänzlich vergessen, und diese (offenbar die begünstigte Nebenbuhlerin der Schreiberin) solle den Zorn der Götter auf sich laden. In zahlreichen Fällen (zumal auf deu Tafeln aus Karthago) geht der Fluch gegen Wagenlenker der konkurrierenden Partei und deren Pferde, worauf wir später uoch zurückkommen; in andern ist es der Prozeßgegner, der gebunden, dessen Zunge und Sinn ge¬ bannt werde» soll, daß er nichts vorzubringen imstande ist; oder: wie die Dämonen ohne Sprache und ohne Zunge sind, so soll es auch der Gegner werden. Mitunter ist die Ursache der Feindschaft nicht angeführt; es heißt nur, der und der soll der Feind werden von A, der Feind von B usw., unter Anführung einer ganzen Menge von Namen; oder: „die Götter sollen den Betreffenden ergreifen und ihn den Schatten übergeben, damit sie ihm Fleisch und Sehnen und Glieder und Seele vernichten, sodaß er dem Jonikos nicht mehr begegnen und ihm nicht durch Rede oder Blick (den »bösen Blick«, das unz.1 ooolrio der heutigen Italiener) schaden kann." Auf eiuer in Rom ge- fundnen, aber unter dem Einfluß ägyptischer Religion entstandnen Tafel wird der Verfluchte beschuldigt, den „Papyrou" (nach Wünsch die aus Papiermache hergestellte Hülle der Mumie) des Osiris angezündet und Fische gegessen zu haben (das letzte anscheinend eine Versündigung gegen eine rituelle Vorschrift); durch solche Schuld soll der Gott Osiris bewogen werden, gegen den Gott¬ losen einzuschreiten. (Schluß folgt) Die schöne Hälfte des Lebens Wilhelm Brandes von Sohn, mehr wünschest du nicht, die Braut in die Kammer zu führen, Daß dir werde die Nacht zur schönen Hälfte des Lebens, Und die Arbeit des Tags dir freier und eigener werde, Als der Unter es wünscht und die Mutter, Diese Worte, mit denen im vierten Gesänge von Goethes Hermann und Dorothea die Mutter den Sohn zu beschwichtigen beginnt, nachdem er ihr unter dem Birnbaum sein Leid geklagt hat, haben wohl von jeher auch bei Verehrern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/495>, abgerufen am 30.04.2024.