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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Hein Wieck

Denn zwar drängt er sich vor zu diesen Gliedern, zu jenen,
stattet mächtig sie aus, jedoch schon darben dagegen
Andere Glieder; die Last des Übergewichtes vernichtet
Alle Schöne der Form und alle reine Bewegung.

Genau so ist in unserm Falle durch die "Last des Übergewichtes" von Arbeit,
Sorge und Unrast gegenüber der Ruhe, von Wachen gegenüber dem Schlafe daS
natürliche Gleichgewicht in Hermanns Existenz "vernichtet"; indem die volle Nacht¬
ruhe das "Schöne der Form" wiederherstellt, heißt sie füglich selber die "schöne
Hälfte des Lebens." Der Begriff des Schönen ist in beiden Stellen derselbe;
denn daß in der "Metamorphose der Tiere" jene "Schöne der Form" nicht etwa
eine Linien- und Farbenschönheit der äußern Gestalt, sondern die im Ganzen
waltende Harmonie bezeichnet, das bezeugt zu allem übrigen der herrliche Schluß
des Gedichtes:


Dieser schöne Begriff von Macht und Schranken, von Willkür
Und Gesetz, von Freiheit und Maß, von beweglicher Ordnung,
Vorzug und Mangel erfreue dich hoch; die heilige Muse
Bringt harmonisch ihn dir, mit sanftem Zwange belehrend.
Keinen höhern Begriff erringt der sittliche Denker,
Keinen der thätige Mann, der dichtende Künstler; der Herrscher,
Der verdient es zu sein, erfreut nur durch ihn sich der Krone.
Freue dich, höchstes Geschöpf der Natur! du fühlest dich fähig,
Ihr den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich aufschwang,
nachzudenken. Hier stehe nun still und wende die Blicke
Rückwärts, prüfe, vergleiche und nimm vom Munde der Muse,
Das; du schauest, uicht schwärmst, die liebliche volle Gewißheit.

Möchten die letzten Worte auch für unsre Untersuchung gelten! Sie hat uns auf
nicht immer erquicklichen Wegen, die aber nicht zu umgehen waren, aus einem
Sumpfe niedriger und zum Teil widersinniger Vorstellungen, die dem Dichter zu
impntieren eigentlich eine I^osa mstösws war, zu der reinsten Höhe gvethischen Em-
pfindens und Denkens geführt. Der Leser aber scheue einen Rückblick nicht, er
vergleiche noch einmal, er prüfe reiflich, so wird er hoffentlich auch hier zum schönen
Schlüsse die liebliche volle Gewißheit gewinnen, daß der Meister auch in dieser
Dichtung immer Meister ist und nirgends, wie ein stümpernder Dilettant einer
"Lieblingsvorstellung" nachgebend, sein eignes Werk verdorben hat.




Hein Menk Timm Kröger Line Stall- und Scheuuengeschichte von
(Fortsetzung)
8

s war einen Tag später.

Harm hatte eine Unterredung mit seiner Frau gehabt, und bei
dieser Unterredung waren einige nicht nnivesentliche Beschlüsse ge¬
zeitigt worden. Es war erstens beschlossen worden: das ewige Ge-
zerre und Gejachter zwischen Hein einerseits, Antje und Rieke
andrerseits müsse aufhören, da sie zu groß für solche Spielereien
geworden seien. Sodann: Reimer Witt von Obendeich, einziger Erbe eines schönen,


Hein Wieck

Denn zwar drängt er sich vor zu diesen Gliedern, zu jenen,
stattet mächtig sie aus, jedoch schon darben dagegen
Andere Glieder; die Last des Übergewichtes vernichtet
Alle Schöne der Form und alle reine Bewegung.

Genau so ist in unserm Falle durch die „Last des Übergewichtes" von Arbeit,
Sorge und Unrast gegenüber der Ruhe, von Wachen gegenüber dem Schlafe daS
natürliche Gleichgewicht in Hermanns Existenz „vernichtet"; indem die volle Nacht¬
ruhe das „Schöne der Form" wiederherstellt, heißt sie füglich selber die „schöne
Hälfte des Lebens." Der Begriff des Schönen ist in beiden Stellen derselbe;
denn daß in der „Metamorphose der Tiere" jene „Schöne der Form" nicht etwa
eine Linien- und Farbenschönheit der äußern Gestalt, sondern die im Ganzen
waltende Harmonie bezeichnet, das bezeugt zu allem übrigen der herrliche Schluß
des Gedichtes:


Dieser schöne Begriff von Macht und Schranken, von Willkür
Und Gesetz, von Freiheit und Maß, von beweglicher Ordnung,
Vorzug und Mangel erfreue dich hoch; die heilige Muse
Bringt harmonisch ihn dir, mit sanftem Zwange belehrend.
Keinen höhern Begriff erringt der sittliche Denker,
Keinen der thätige Mann, der dichtende Künstler; der Herrscher,
Der verdient es zu sein, erfreut nur durch ihn sich der Krone.
Freue dich, höchstes Geschöpf der Natur! du fühlest dich fähig,
Ihr den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich aufschwang,
nachzudenken. Hier stehe nun still und wende die Blicke
Rückwärts, prüfe, vergleiche und nimm vom Munde der Muse,
Das; du schauest, uicht schwärmst, die liebliche volle Gewißheit.

Möchten die letzten Worte auch für unsre Untersuchung gelten! Sie hat uns auf
nicht immer erquicklichen Wegen, die aber nicht zu umgehen waren, aus einem
Sumpfe niedriger und zum Teil widersinniger Vorstellungen, die dem Dichter zu
impntieren eigentlich eine I^osa mstösws war, zu der reinsten Höhe gvethischen Em-
pfindens und Denkens geführt. Der Leser aber scheue einen Rückblick nicht, er
vergleiche noch einmal, er prüfe reiflich, so wird er hoffentlich auch hier zum schönen
Schlüsse die liebliche volle Gewißheit gewinnen, daß der Meister auch in dieser
Dichtung immer Meister ist und nirgends, wie ein stümpernder Dilettant einer
„Lieblingsvorstellung" nachgebend, sein eignes Werk verdorben hat.




Hein Menk Timm Kröger Line Stall- und Scheuuengeschichte von
(Fortsetzung)
8

s war einen Tag später.

Harm hatte eine Unterredung mit seiner Frau gehabt, und bei
dieser Unterredung waren einige nicht nnivesentliche Beschlüsse ge¬
zeitigt worden. Es war erstens beschlossen worden: das ewige Ge-
zerre und Gejachter zwischen Hein einerseits, Antje und Rieke
andrerseits müsse aufhören, da sie zu groß für solche Spielereien
geworden seien. Sodann: Reimer Witt von Obendeich, einziger Erbe eines schönen,


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[0501] Hein Wieck Denn zwar drängt er sich vor zu diesen Gliedern, zu jenen, stattet mächtig sie aus, jedoch schon darben dagegen Andere Glieder; die Last des Übergewichtes vernichtet Alle Schöne der Form und alle reine Bewegung. Genau so ist in unserm Falle durch die „Last des Übergewichtes" von Arbeit, Sorge und Unrast gegenüber der Ruhe, von Wachen gegenüber dem Schlafe daS natürliche Gleichgewicht in Hermanns Existenz „vernichtet"; indem die volle Nacht¬ ruhe das „Schöne der Form" wiederherstellt, heißt sie füglich selber die „schöne Hälfte des Lebens." Der Begriff des Schönen ist in beiden Stellen derselbe; denn daß in der „Metamorphose der Tiere" jene „Schöne der Form" nicht etwa eine Linien- und Farbenschönheit der äußern Gestalt, sondern die im Ganzen waltende Harmonie bezeichnet, das bezeugt zu allem übrigen der herrliche Schluß des Gedichtes: Dieser schöne Begriff von Macht und Schranken, von Willkür Und Gesetz, von Freiheit und Maß, von beweglicher Ordnung, Vorzug und Mangel erfreue dich hoch; die heilige Muse Bringt harmonisch ihn dir, mit sanftem Zwange belehrend. Keinen höhern Begriff erringt der sittliche Denker, Keinen der thätige Mann, der dichtende Künstler; der Herrscher, Der verdient es zu sein, erfreut nur durch ihn sich der Krone. Freue dich, höchstes Geschöpf der Natur! du fühlest dich fähig, Ihr den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich aufschwang, nachzudenken. Hier stehe nun still und wende die Blicke Rückwärts, prüfe, vergleiche und nimm vom Munde der Muse, Das; du schauest, uicht schwärmst, die liebliche volle Gewißheit. Möchten die letzten Worte auch für unsre Untersuchung gelten! Sie hat uns auf nicht immer erquicklichen Wegen, die aber nicht zu umgehen waren, aus einem Sumpfe niedriger und zum Teil widersinniger Vorstellungen, die dem Dichter zu impntieren eigentlich eine I^osa mstösws war, zu der reinsten Höhe gvethischen Em- pfindens und Denkens geführt. Der Leser aber scheue einen Rückblick nicht, er vergleiche noch einmal, er prüfe reiflich, so wird er hoffentlich auch hier zum schönen Schlüsse die liebliche volle Gewißheit gewinnen, daß der Meister auch in dieser Dichtung immer Meister ist und nirgends, wie ein stümpernder Dilettant einer „Lieblingsvorstellung" nachgebend, sein eignes Werk verdorben hat. Hein Menk Timm Kröger Line Stall- und Scheuuengeschichte von (Fortsetzung) 8 s war einen Tag später. Harm hatte eine Unterredung mit seiner Frau gehabt, und bei dieser Unterredung waren einige nicht nnivesentliche Beschlüsse ge¬ zeitigt worden. Es war erstens beschlossen worden: das ewige Ge- zerre und Gejachter zwischen Hein einerseits, Antje und Rieke andrerseits müsse aufhören, da sie zu groß für solche Spielereien geworden seien. Sodann: Reimer Witt von Obendeich, einziger Erbe eines schönen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/501>, abgerufen am 30.04.2024.