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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

daß sie sich leiden mochten (einen andern Ausdruck hat der Plattdeutsche eigentlich
für lieben nicht), und als sie das herausgekriegt hatten, da küßten sie sich.

Nun wird jeder, der in diesem Punkte auch uur ein bischen Erfahrung hat,
wissen, daß man von einem Kuß und seiner Erinnerung nicht ewig zehren kaun
und auch uicht zehren will, daß man vielmehr auf Wiederholung besagter Gunst-
bezeugung bedacht ist. Und auch Harm war daraus bedacht, und der Winkel hinter
der alten Hofscheune am Hausteins schien ihm vortrefflich zum Austausch und zur
Entgegennahme von Küssen geeignet zu sein. Er bestimmte also diesen Fleck zum
Stelldichein mit seiner Wieb.

So ein junger Hura hat seiue eignen Ansichten. Wenn er in Holzpantoffeln,
in zu kurzen Beinkleidern auf einem krummen Holunderstamm sitzt, seine Liebe,
die eine Kücheuschürze trägt, und deren Röcke zu kurz geraten sind, im Arm, ist er
kavabel, so ein schwarzhaariges Dirnchen, das zwar zaghaft aber hübsch innig küßt,
lieber zu haben als seine Tante, die zwar lange Rocke anhat, aber mit dem
Küsse" uicht so Bescheid weiß. Er ist imstande, für seine Wieb und deren Liebe
den Triumph gering zu achten, im Ringreiten den ersten Preis zu erringen oder
in vierundzwanzig Stunden zwei Tagwerk Wiesen abzumühen. Ja, für so was
Liebes giebt er leichten Herzens deu Genuß dahin, dickgeschmierte Butterbrode zur
dünnen Buttermilchsgrütze zu essen, auch wenn die Köchin der Grütze mit einer
Kanne süßen Radins einen Geschmack gegeben hat, den man kennen muß, um ihn
für möglich zu halten. Aber Rauhreif und heimliches Liebesglück werden nicht drei
Tage alt.

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches

Religionsunterricht. Herr W. Rein in Jena, Mitherausgeber der "Zeit¬
schrift für Philosophie und Pädagogik," hat die Güte gehabt, mir das vierte Heft des
laufenden Jahrgangs zu übersenden,^) worin Herr Ernst Heyn in Erfurt meine
Betrachtungen über Religionsunterricht im 30., 31. und 32. Heft des Jahrgangs
1397 der Grenzboten scharf kritisiert. Die Schärfe geht keineswegs ans Übel¬
wollen hervor; vielmehr beweist die Aufmerksamkeit, mit der er meine sämtlichen
Schriften gelesen hat, einen hohen Grad von Wohlwollen; er weist mir nämlich
eine Unmasse von Widersprüchen nach zwischen jenen Betrachtungen und Äuße-
rungen, die ich anderwärts gethan habe, außerdem widerspreche" sich seiner Ansicht
nach diese Betrachtungen selbst auch untereinander. Es war mir höchst interessant,
diese Widersprüche einmal so vollständig aneinander gereiht vor Augen zu habe",
aber sie hier lösen oder rechtfertigen, das geht nicht gut, denn das hieße unser
ganzes modernes Geistesleben mit seinen Gegensätzen und Kämpfen abhandeln. Was



*) Er legt auch Ur. 8 der Hilfe bei, die einen Artikel von ihm selbst "Gegen die Gro߬
stadt" enthält, ohne Zweifel in der begründeten Voraussetzung, daß ich ihm beistimmen werde.
Er schildert den abscheulichen Eindruck, den London nuf ihn gemacht hat, und fragt, ob es denn
keine Mittel gebe, dus Anwachsen der Großstädte zu Stadtungchenern zu verhindern?
Maßgebliches und Unmaßgebliches

daß sie sich leiden mochten (einen andern Ausdruck hat der Plattdeutsche eigentlich
für lieben nicht), und als sie das herausgekriegt hatten, da küßten sie sich.

Nun wird jeder, der in diesem Punkte auch uur ein bischen Erfahrung hat,
wissen, daß man von einem Kuß und seiner Erinnerung nicht ewig zehren kaun
und auch uicht zehren will, daß man vielmehr auf Wiederholung besagter Gunst-
bezeugung bedacht ist. Und auch Harm war daraus bedacht, und der Winkel hinter
der alten Hofscheune am Hausteins schien ihm vortrefflich zum Austausch und zur
Entgegennahme von Küssen geeignet zu sein. Er bestimmte also diesen Fleck zum
Stelldichein mit seiner Wieb.

So ein junger Hura hat seiue eignen Ansichten. Wenn er in Holzpantoffeln,
in zu kurzen Beinkleidern auf einem krummen Holunderstamm sitzt, seine Liebe,
die eine Kücheuschürze trägt, und deren Röcke zu kurz geraten sind, im Arm, ist er
kavabel, so ein schwarzhaariges Dirnchen, das zwar zaghaft aber hübsch innig küßt,
lieber zu haben als seine Tante, die zwar lange Rocke anhat, aber mit dem
Küsse» uicht so Bescheid weiß. Er ist imstande, für seine Wieb und deren Liebe
den Triumph gering zu achten, im Ringreiten den ersten Preis zu erringen oder
in vierundzwanzig Stunden zwei Tagwerk Wiesen abzumühen. Ja, für so was
Liebes giebt er leichten Herzens deu Genuß dahin, dickgeschmierte Butterbrode zur
dünnen Buttermilchsgrütze zu essen, auch wenn die Köchin der Grütze mit einer
Kanne süßen Radins einen Geschmack gegeben hat, den man kennen muß, um ihn
für möglich zu halten. Aber Rauhreif und heimliches Liebesglück werden nicht drei
Tage alt.

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches

Religionsunterricht. Herr W. Rein in Jena, Mitherausgeber der „Zeit¬
schrift für Philosophie und Pädagogik," hat die Güte gehabt, mir das vierte Heft des
laufenden Jahrgangs zu übersenden,^) worin Herr Ernst Heyn in Erfurt meine
Betrachtungen über Religionsunterricht im 30., 31. und 32. Heft des Jahrgangs
1397 der Grenzboten scharf kritisiert. Die Schärfe geht keineswegs ans Übel¬
wollen hervor; vielmehr beweist die Aufmerksamkeit, mit der er meine sämtlichen
Schriften gelesen hat, einen hohen Grad von Wohlwollen; er weist mir nämlich
eine Unmasse von Widersprüchen nach zwischen jenen Betrachtungen und Äuße-
rungen, die ich anderwärts gethan habe, außerdem widerspreche« sich seiner Ansicht
nach diese Betrachtungen selbst auch untereinander. Es war mir höchst interessant,
diese Widersprüche einmal so vollständig aneinander gereiht vor Augen zu habe»,
aber sie hier lösen oder rechtfertigen, das geht nicht gut, denn das hieße unser
ganzes modernes Geistesleben mit seinen Gegensätzen und Kämpfen abhandeln. Was



*) Er legt auch Ur. 8 der Hilfe bei, die einen Artikel von ihm selbst „Gegen die Gro߬
stadt" enthält, ohne Zweifel in der begründeten Voraussetzung, daß ich ihm beistimmen werde.
Er schildert den abscheulichen Eindruck, den London nuf ihn gemacht hat, und fragt, ob es denn
keine Mittel gebe, dus Anwachsen der Großstädte zu Stadtungchenern zu verhindern?
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[0509] Maßgebliches und Unmaßgebliches daß sie sich leiden mochten (einen andern Ausdruck hat der Plattdeutsche eigentlich für lieben nicht), und als sie das herausgekriegt hatten, da küßten sie sich. Nun wird jeder, der in diesem Punkte auch uur ein bischen Erfahrung hat, wissen, daß man von einem Kuß und seiner Erinnerung nicht ewig zehren kaun und auch uicht zehren will, daß man vielmehr auf Wiederholung besagter Gunst- bezeugung bedacht ist. Und auch Harm war daraus bedacht, und der Winkel hinter der alten Hofscheune am Hausteins schien ihm vortrefflich zum Austausch und zur Entgegennahme von Küssen geeignet zu sein. Er bestimmte also diesen Fleck zum Stelldichein mit seiner Wieb. So ein junger Hura hat seiue eignen Ansichten. Wenn er in Holzpantoffeln, in zu kurzen Beinkleidern auf einem krummen Holunderstamm sitzt, seine Liebe, die eine Kücheuschürze trägt, und deren Röcke zu kurz geraten sind, im Arm, ist er kavabel, so ein schwarzhaariges Dirnchen, das zwar zaghaft aber hübsch innig küßt, lieber zu haben als seine Tante, die zwar lange Rocke anhat, aber mit dem Küsse» uicht so Bescheid weiß. Er ist imstande, für seine Wieb und deren Liebe den Triumph gering zu achten, im Ringreiten den ersten Preis zu erringen oder in vierundzwanzig Stunden zwei Tagwerk Wiesen abzumühen. Ja, für so was Liebes giebt er leichten Herzens deu Genuß dahin, dickgeschmierte Butterbrode zur dünnen Buttermilchsgrütze zu essen, auch wenn die Köchin der Grütze mit einer Kanne süßen Radins einen Geschmack gegeben hat, den man kennen muß, um ihn für möglich zu halten. Aber Rauhreif und heimliches Liebesglück werden nicht drei Tage alt. (Fortsetzung folgt) Maßgebliches und Unmaßgebliches Religionsunterricht. Herr W. Rein in Jena, Mitherausgeber der „Zeit¬ schrift für Philosophie und Pädagogik," hat die Güte gehabt, mir das vierte Heft des laufenden Jahrgangs zu übersenden,^) worin Herr Ernst Heyn in Erfurt meine Betrachtungen über Religionsunterricht im 30., 31. und 32. Heft des Jahrgangs 1397 der Grenzboten scharf kritisiert. Die Schärfe geht keineswegs ans Übel¬ wollen hervor; vielmehr beweist die Aufmerksamkeit, mit der er meine sämtlichen Schriften gelesen hat, einen hohen Grad von Wohlwollen; er weist mir nämlich eine Unmasse von Widersprüchen nach zwischen jenen Betrachtungen und Äuße- rungen, die ich anderwärts gethan habe, außerdem widerspreche« sich seiner Ansicht nach diese Betrachtungen selbst auch untereinander. Es war mir höchst interessant, diese Widersprüche einmal so vollständig aneinander gereiht vor Augen zu habe», aber sie hier lösen oder rechtfertigen, das geht nicht gut, denn das hieße unser ganzes modernes Geistesleben mit seinen Gegensätzen und Kämpfen abhandeln. Was *) Er legt auch Ur. 8 der Hilfe bei, die einen Artikel von ihm selbst „Gegen die Gro߬ stadt" enthält, ohne Zweifel in der begründeten Voraussetzung, daß ich ihm beistimmen werde. Er schildert den abscheulichen Eindruck, den London nuf ihn gemacht hat, und fragt, ob es denn keine Mittel gebe, dus Anwachsen der Großstädte zu Stadtungchenern zu verhindern?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/509>, abgerufen am 30.04.2024.