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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Deutsche Abwehr einer Schweizer Verteidigung

Hoffnung erfüllte sich nicht. Fast mehr noch als die Kirche hatte ihm immer
seine Wissenschaft, die Theologie, am Herzen gelegen; ihr Erneuerer wollte er
sein, und bei seinen Glaubensgenossen galt er eine Zeit lang dafür. Aber die
Zeit der Theologie ist vorüber. Die orthodoxe Theologie kann und will nichts
andres sein als die Begründung und Erklärung von Sätzen, die ein- für
allemal feststehen, also Scholastik, Kommentation des Thomas von Aquin.
Die freie theologische Forschung aber löst die Dogmatik auf, vernichtet also
das, was man bisher Theologie genannt hat. Döllinger selbst hat je länger
je mehr den theologischen Charakter abgestreift und ist reiner Historiker ge¬
worden. Möglicherweise stellen spätere Geschlechter einmal die Theologie
wieder her aus den Bausteinen, die jetzt von den Forschern auf den Gebieten
der Religionsphilosophie und Religionsgeschichte zusammengetragen werden,
vorläufig ist von den Anfängen eines solchen Neubaus nichts zu bemerken.
Vergebens hat Döllinger trotzdem nicht gelebt und gearbeitet; noch auf lange
hinaus werden seine Bücher von den Studierenden als reiche Fundgruben
L> I- wissenschaftlicher Erkenntnisse hochgeschätzt werden.




Deutsche Abwehr einer Schweizer Verteidigung

n meinen "Politischen Neisebetrachtuugen aus dem deutschen Süden"
(Ur. 49 und 50 des vorigen Jahrgangs der Grenzboten) hatte
ich meiner betrübenden Wahrnehmung über den nationalen Nieder¬
gang der Schweiz Ausdruck gegeben, die ihre deutsche Herkunft
immer mehr zu vergessen schien. Darob große Entrüstung in
den Schweizer Zeitungen und schwächliche Verteidigung meiner Ausführungen
in der reichsdeutschen Presse oder auch kritiklose Verdammung, obschon ich die
Politik absichtlich gemieden hatte, um nicht der kleinen, sreiheitstolzen Republik
gegenüber als fanatischer Monarchist zu erscheinen. Daß allein Bismarck die
französische Republik vor dem monarchischen Angriff unter Mac Mahon gerettet
und gerade das Deutsche Reich der nvrdcimerikanischen Union trotz aller Flegeleien
besondre Freundschaft erwiesen haben, sei nur beiläufig erwähnt, wir haben ja
im Deutschen Reiche in den Hansestädten auch Republiken, die sich in ihrer
Regierungsform von den Schweizer Kantonen kaum unterscheiden. Auch die
Grenzboten verzuckerten in Ur. 8 dieses Jahrgangs in ritterlicher Weise die
Pille, die ich den Schweizern als lautere, aber bittere Wahrheit unter vollster
Anerkennung ihrer guten Eigenschaften gereicht hatte, um sie aus der ratio-


Deutsche Abwehr einer Schweizer Verteidigung

Hoffnung erfüllte sich nicht. Fast mehr noch als die Kirche hatte ihm immer
seine Wissenschaft, die Theologie, am Herzen gelegen; ihr Erneuerer wollte er
sein, und bei seinen Glaubensgenossen galt er eine Zeit lang dafür. Aber die
Zeit der Theologie ist vorüber. Die orthodoxe Theologie kann und will nichts
andres sein als die Begründung und Erklärung von Sätzen, die ein- für
allemal feststehen, also Scholastik, Kommentation des Thomas von Aquin.
Die freie theologische Forschung aber löst die Dogmatik auf, vernichtet also
das, was man bisher Theologie genannt hat. Döllinger selbst hat je länger
je mehr den theologischen Charakter abgestreift und ist reiner Historiker ge¬
worden. Möglicherweise stellen spätere Geschlechter einmal die Theologie
wieder her aus den Bausteinen, die jetzt von den Forschern auf den Gebieten
der Religionsphilosophie und Religionsgeschichte zusammengetragen werden,
vorläufig ist von den Anfängen eines solchen Neubaus nichts zu bemerken.
Vergebens hat Döllinger trotzdem nicht gelebt und gearbeitet; noch auf lange
hinaus werden seine Bücher von den Studierenden als reiche Fundgruben
L> I- wissenschaftlicher Erkenntnisse hochgeschätzt werden.




Deutsche Abwehr einer Schweizer Verteidigung

n meinen „Politischen Neisebetrachtuugen aus dem deutschen Süden"
(Ur. 49 und 50 des vorigen Jahrgangs der Grenzboten) hatte
ich meiner betrübenden Wahrnehmung über den nationalen Nieder¬
gang der Schweiz Ausdruck gegeben, die ihre deutsche Herkunft
immer mehr zu vergessen schien. Darob große Entrüstung in
den Schweizer Zeitungen und schwächliche Verteidigung meiner Ausführungen
in der reichsdeutschen Presse oder auch kritiklose Verdammung, obschon ich die
Politik absichtlich gemieden hatte, um nicht der kleinen, sreiheitstolzen Republik
gegenüber als fanatischer Monarchist zu erscheinen. Daß allein Bismarck die
französische Republik vor dem monarchischen Angriff unter Mac Mahon gerettet
und gerade das Deutsche Reich der nvrdcimerikanischen Union trotz aller Flegeleien
besondre Freundschaft erwiesen haben, sei nur beiläufig erwähnt, wir haben ja
im Deutschen Reiche in den Hansestädten auch Republiken, die sich in ihrer
Regierungsform von den Schweizer Kantonen kaum unterscheiden. Auch die
Grenzboten verzuckerten in Ur. 8 dieses Jahrgangs in ritterlicher Weise die
Pille, die ich den Schweizern als lautere, aber bittere Wahrheit unter vollster
Anerkennung ihrer guten Eigenschaften gereicht hatte, um sie aus der ratio-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/586>, abgerufen am 30.04.2024.