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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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sein, auch den zu Asche verbrannten Leib wieder erstehn zu lassen? Wo sollen
denn die unglücklichen Märtyrer und andre glaubenskräftige Menschen hinkommen,
die in Zeiten religiösen Umschwungs ihre Überzeugung mit dem Feuertode büßen
mußten und doch erst recht durch ihr namenloses Leiden den Himmel verdient
haben?! Und wenn auch die Geistlichkeit fortfahren sollte, die Leichenverbrennung
für unchristlich zu halten, so müßte sie gerade solchen Verstorbnen, die die Ver¬
brennung ihres Leibes letztwillig verfügt haben, die geistliche Begleitung nicht ver¬
sagen, denn gerade diese hätten doch dann vorzugsweise eine geistliche Fürsorge
nötig, damit ihr Vergehen gesühnt würde. Unter allen Umständen wäre es endlich
um der Zeit, die Leichenverbrennung, wenn man sie nicht gesetzlich einführen will,
wenigstens in den Willen des Einzelnen zu stellen, und vor allen Dingen die Mit¬
wirkung der Geistlichen unbedingt zuzulassen. Daß die Feuerbestattung über kurz
oder laug, aus den angeführten Gründen, doch staatlich eingeführt werden muß,
unterliegt keinem Zweifel; auch die Verlegung der Friedhöfe von der Kirche weg
,
L. v. außerhalb der Wohnorte, war eine Forderung der Zeit.




Litteratur

Schleiermacher. Zum hundertjährigen Gedächtnis der Reden über die Religion an die Ge¬
bildeten unter ihren Verächter". Von M> Fischer, Pfarrer an Se. Markus in Berlin. Berlin
und Braunschweig, C. A. Schwetschke und Sohn, 1899

Im September vorigen Jahres klagten wir bei eiuer Besprechung der soge¬
nannten "Evangelisation" in Berlin als einer Art evangelischer Jesuitenmission im
Dienst der schroffsten, unduldsamsten Orthodoxie darüber, daß unsre, d. h. der ge¬
bildeten Protestanten in Berlin und ganz Altpreußen, eigne Gleichgiltigkeit und
Unredlichkeit in kirchlichen und religiösen Dingen die Schuld an dem Aufkommen
und dem Umsichgreifen dieser durch und durch unprotestantischen Maulwurfsarbeit
trügen, und daß wir selbst dafür verantwortlich zu machen wären, wenn unserm
Protestantismus mehr und mehr die Existenzberechtigung gegenüber dem ultra¬
montanen Katholizismus verloren gehe und er den Arbeitermassen unsrer, der alt-
preußischen, Großstädte nur uoch als organisierte und legalisierte UnWahrhaftigkeit
erscheine. Die Berechtigung dieser Klage -- und wer unter den gemäßigt konser¬
vativen und liberalen Gebildeten Berlins wagt sie wohl zu bestreiten? -- ist tief
beschämend für eine Stadt und einen Staat, in denen vor hundert Jahren noch
der Geist Friedrichs des Großen nachwirkte, in denen vor hundert Jahren Schleier¬
machers Protestantismus in Kirche und Schule die Wahrhaftigkeit als heiligste
Pflicht und unerläßlichste Voraussetzung evangelischer Lehre, wie es schien für immer,
zur Anerkennung gebracht hatte.

Um so mehr freuen wir uns über das Erscheinen dieses Buches. Es ist nicht
nur zum Gedächtnis geschrieben, sondern vor allem als Weckruf an uns Gebildete
von heute, als eine dringende Mahnung für die Zukunft. Woher kommt es, fragt
sich der Verfasser, daß wir im religiösen Leben nicht voran kommen? Und er
giebt die Antwort: "Das liegt am Mangel an Freiheit, an Freiheit in der Kirche.


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sein, auch den zu Asche verbrannten Leib wieder erstehn zu lassen? Wo sollen
denn die unglücklichen Märtyrer und andre glaubenskräftige Menschen hinkommen,
die in Zeiten religiösen Umschwungs ihre Überzeugung mit dem Feuertode büßen
mußten und doch erst recht durch ihr namenloses Leiden den Himmel verdient
haben?! Und wenn auch die Geistlichkeit fortfahren sollte, die Leichenverbrennung
für unchristlich zu halten, so müßte sie gerade solchen Verstorbnen, die die Ver¬
brennung ihres Leibes letztwillig verfügt haben, die geistliche Begleitung nicht ver¬
sagen, denn gerade diese hätten doch dann vorzugsweise eine geistliche Fürsorge
nötig, damit ihr Vergehen gesühnt würde. Unter allen Umständen wäre es endlich
um der Zeit, die Leichenverbrennung, wenn man sie nicht gesetzlich einführen will,
wenigstens in den Willen des Einzelnen zu stellen, und vor allen Dingen die Mit¬
wirkung der Geistlichen unbedingt zuzulassen. Daß die Feuerbestattung über kurz
oder laug, aus den angeführten Gründen, doch staatlich eingeführt werden muß,
unterliegt keinem Zweifel; auch die Verlegung der Friedhöfe von der Kirche weg
,
L. v. außerhalb der Wohnorte, war eine Forderung der Zeit.




Litteratur

Schleiermacher. Zum hundertjährigen Gedächtnis der Reden über die Religion an die Ge¬
bildeten unter ihren Verächter». Von M> Fischer, Pfarrer an Se. Markus in Berlin. Berlin
und Braunschweig, C. A. Schwetschke und Sohn, 1899

Im September vorigen Jahres klagten wir bei eiuer Besprechung der soge¬
nannten „Evangelisation" in Berlin als einer Art evangelischer Jesuitenmission im
Dienst der schroffsten, unduldsamsten Orthodoxie darüber, daß unsre, d. h. der ge¬
bildeten Protestanten in Berlin und ganz Altpreußen, eigne Gleichgiltigkeit und
Unredlichkeit in kirchlichen und religiösen Dingen die Schuld an dem Aufkommen
und dem Umsichgreifen dieser durch und durch unprotestantischen Maulwurfsarbeit
trügen, und daß wir selbst dafür verantwortlich zu machen wären, wenn unserm
Protestantismus mehr und mehr die Existenzberechtigung gegenüber dem ultra¬
montanen Katholizismus verloren gehe und er den Arbeitermassen unsrer, der alt-
preußischen, Großstädte nur uoch als organisierte und legalisierte UnWahrhaftigkeit
erscheine. Die Berechtigung dieser Klage — und wer unter den gemäßigt konser¬
vativen und liberalen Gebildeten Berlins wagt sie wohl zu bestreiten? — ist tief
beschämend für eine Stadt und einen Staat, in denen vor hundert Jahren noch
der Geist Friedrichs des Großen nachwirkte, in denen vor hundert Jahren Schleier¬
machers Protestantismus in Kirche und Schule die Wahrhaftigkeit als heiligste
Pflicht und unerläßlichste Voraussetzung evangelischer Lehre, wie es schien für immer,
zur Anerkennung gebracht hatte.

Um so mehr freuen wir uns über das Erscheinen dieses Buches. Es ist nicht
nur zum Gedächtnis geschrieben, sondern vor allem als Weckruf an uns Gebildete
von heute, als eine dringende Mahnung für die Zukunft. Woher kommt es, fragt
sich der Verfasser, daß wir im religiösen Leben nicht voran kommen? Und er
giebt die Antwort: „Das liegt am Mangel an Freiheit, an Freiheit in der Kirche.


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[0679] Litteratur sein, auch den zu Asche verbrannten Leib wieder erstehn zu lassen? Wo sollen denn die unglücklichen Märtyrer und andre glaubenskräftige Menschen hinkommen, die in Zeiten religiösen Umschwungs ihre Überzeugung mit dem Feuertode büßen mußten und doch erst recht durch ihr namenloses Leiden den Himmel verdient haben?! Und wenn auch die Geistlichkeit fortfahren sollte, die Leichenverbrennung für unchristlich zu halten, so müßte sie gerade solchen Verstorbnen, die die Ver¬ brennung ihres Leibes letztwillig verfügt haben, die geistliche Begleitung nicht ver¬ sagen, denn gerade diese hätten doch dann vorzugsweise eine geistliche Fürsorge nötig, damit ihr Vergehen gesühnt würde. Unter allen Umständen wäre es endlich um der Zeit, die Leichenverbrennung, wenn man sie nicht gesetzlich einführen will, wenigstens in den Willen des Einzelnen zu stellen, und vor allen Dingen die Mit¬ wirkung der Geistlichen unbedingt zuzulassen. Daß die Feuerbestattung über kurz oder laug, aus den angeführten Gründen, doch staatlich eingeführt werden muß, unterliegt keinem Zweifel; auch die Verlegung der Friedhöfe von der Kirche weg , L. v. außerhalb der Wohnorte, war eine Forderung der Zeit. Litteratur Schleiermacher. Zum hundertjährigen Gedächtnis der Reden über die Religion an die Ge¬ bildeten unter ihren Verächter». Von M> Fischer, Pfarrer an Se. Markus in Berlin. Berlin und Braunschweig, C. A. Schwetschke und Sohn, 1899 Im September vorigen Jahres klagten wir bei eiuer Besprechung der soge¬ nannten „Evangelisation" in Berlin als einer Art evangelischer Jesuitenmission im Dienst der schroffsten, unduldsamsten Orthodoxie darüber, daß unsre, d. h. der ge¬ bildeten Protestanten in Berlin und ganz Altpreußen, eigne Gleichgiltigkeit und Unredlichkeit in kirchlichen und religiösen Dingen die Schuld an dem Aufkommen und dem Umsichgreifen dieser durch und durch unprotestantischen Maulwurfsarbeit trügen, und daß wir selbst dafür verantwortlich zu machen wären, wenn unserm Protestantismus mehr und mehr die Existenzberechtigung gegenüber dem ultra¬ montanen Katholizismus verloren gehe und er den Arbeitermassen unsrer, der alt- preußischen, Großstädte nur uoch als organisierte und legalisierte UnWahrhaftigkeit erscheine. Die Berechtigung dieser Klage — und wer unter den gemäßigt konser¬ vativen und liberalen Gebildeten Berlins wagt sie wohl zu bestreiten? — ist tief beschämend für eine Stadt und einen Staat, in denen vor hundert Jahren noch der Geist Friedrichs des Großen nachwirkte, in denen vor hundert Jahren Schleier¬ machers Protestantismus in Kirche und Schule die Wahrhaftigkeit als heiligste Pflicht und unerläßlichste Voraussetzung evangelischer Lehre, wie es schien für immer, zur Anerkennung gebracht hatte. Um so mehr freuen wir uns über das Erscheinen dieses Buches. Es ist nicht nur zum Gedächtnis geschrieben, sondern vor allem als Weckruf an uns Gebildete von heute, als eine dringende Mahnung für die Zukunft. Woher kommt es, fragt sich der Verfasser, daß wir im religiösen Leben nicht voran kommen? Und er giebt die Antwort: „Das liegt am Mangel an Freiheit, an Freiheit in der Kirche.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/679>, abgerufen am 30.04.2024.