Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Rousseaus Einfluß auf die französische Revolution

ehe er auf die ihn allein interessierende Thatsache übergeht; allein auch dies
kann die Gefahr mit sich führen, daß das Kind dazu verleitet wird, dem
freundlichen großen Manne zu Gefallen von dem, was er gern wissen möchte,
mehr zu sagen, als es so ganz sicher weiß. Andrerseits können ungeschickte
Fragen mit schwer verständlichen Ausdrücken die Wirkung haben, daß das Kind
den Kopf verliert und für den Augenblick wenigstens vollständig vergißt, was
ihm noch unmittelbar vorher klar bewußt gewesen ist. Und alle diese Schwierig¬
keiten und Gefahren treten schon auf, selbst wenn überall der freie gute Wille,
"nichts als die Wahrheit und die ganze Wahrheit" (wie sich der Locke xsiM
Napoleons ausdrückt) zu sagen, vollständig vorhanden ist. Wenn man dazu
noch erwägt, daß in unserm heutigen Recht das bloße "Lügen vor Gericht,"
wenn es nur nicht beschworen wird, mit keinen Strafen verbunden ist, dann
kann man sich nur wundern, daß nicht noch viel häufiger die Fälle vorkommen,
wo bewußte Lügen oder leichtsinnige UnWahrhaftigkeit für unschuldig Ver¬
dächtigte verhängnisvoll werden. Natürlich ist hier nicht das "Leugnen"
eines Angeschuldigten gemeint, das nach dem heutigen Strafrecht eben sein
Recht ist und unverkürzt bleiben soll; aber die bei vielen Personen ^ die zwar
als Zeugen vernommen werden, aber nicht vereidigt werden können, immer
dringlicher hervortretende Notwendigkeit, auch wegen wissentlich falscher Aus¬
sagen Strafen verhängen zu können, verlangt doch eine Änderung der Gesetz¬
gebung, die sich auch auf die Bestrafung junger, also nicht eidesmündiger,
lügnerischer Zeugen erstrecken müßte.




Rousseaus Einfluß auf die französische Revolution
und die Sozialdemokratie
Albert Lhalyba'us von

cum Lombroso in seiner "Naturgeschichte des Verbrechers" von
Rousseau behauptet, daß er etwas von einem Diebe und einem
Vagabunden an sich gehabt habe, so erscheint dieses Urteil zu¬
nächst sehr hart; es erweist sich aber doch als durchaus zutreffend,
wenn man sein Leben und seine Werke genauer betrachtet. Denn
nicht nur, daß er, man kann fast sagen, unstet von einem Ort zum andern
aus eignem Antrieb oder durch eigne Schuld wanderte, so hat er auch in seinen
litterarischen Arbeiten wenig eigne, neue Ideen zu Tage gefördert. Vielmehr
hat er diese zum größten Teil von andern Denkern entlehnt, z. B. den größten


Rousseaus Einfluß auf die französische Revolution

ehe er auf die ihn allein interessierende Thatsache übergeht; allein auch dies
kann die Gefahr mit sich führen, daß das Kind dazu verleitet wird, dem
freundlichen großen Manne zu Gefallen von dem, was er gern wissen möchte,
mehr zu sagen, als es so ganz sicher weiß. Andrerseits können ungeschickte
Fragen mit schwer verständlichen Ausdrücken die Wirkung haben, daß das Kind
den Kopf verliert und für den Augenblick wenigstens vollständig vergißt, was
ihm noch unmittelbar vorher klar bewußt gewesen ist. Und alle diese Schwierig¬
keiten und Gefahren treten schon auf, selbst wenn überall der freie gute Wille,
„nichts als die Wahrheit und die ganze Wahrheit" (wie sich der Locke xsiM
Napoleons ausdrückt) zu sagen, vollständig vorhanden ist. Wenn man dazu
noch erwägt, daß in unserm heutigen Recht das bloße „Lügen vor Gericht,"
wenn es nur nicht beschworen wird, mit keinen Strafen verbunden ist, dann
kann man sich nur wundern, daß nicht noch viel häufiger die Fälle vorkommen,
wo bewußte Lügen oder leichtsinnige UnWahrhaftigkeit für unschuldig Ver¬
dächtigte verhängnisvoll werden. Natürlich ist hier nicht das „Leugnen"
eines Angeschuldigten gemeint, das nach dem heutigen Strafrecht eben sein
Recht ist und unverkürzt bleiben soll; aber die bei vielen Personen ^ die zwar
als Zeugen vernommen werden, aber nicht vereidigt werden können, immer
dringlicher hervortretende Notwendigkeit, auch wegen wissentlich falscher Aus¬
sagen Strafen verhängen zu können, verlangt doch eine Änderung der Gesetz¬
gebung, die sich auch auf die Bestrafung junger, also nicht eidesmündiger,
lügnerischer Zeugen erstrecken müßte.




Rousseaus Einfluß auf die französische Revolution
und die Sozialdemokratie
Albert Lhalyba'us von

cum Lombroso in seiner „Naturgeschichte des Verbrechers" von
Rousseau behauptet, daß er etwas von einem Diebe und einem
Vagabunden an sich gehabt habe, so erscheint dieses Urteil zu¬
nächst sehr hart; es erweist sich aber doch als durchaus zutreffend,
wenn man sein Leben und seine Werke genauer betrachtet. Denn
nicht nur, daß er, man kann fast sagen, unstet von einem Ort zum andern
aus eignem Antrieb oder durch eigne Schuld wanderte, so hat er auch in seinen
litterarischen Arbeiten wenig eigne, neue Ideen zu Tage gefördert. Vielmehr
hat er diese zum größten Teil von andern Denkern entlehnt, z. B. den größten


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0695" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/231127"/>
          <fw type="header" place="top"> Rousseaus Einfluß auf die französische Revolution</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2384" prev="#ID_2383"> ehe er auf die ihn allein interessierende Thatsache übergeht; allein auch dies<lb/>
kann die Gefahr mit sich führen, daß das Kind dazu verleitet wird, dem<lb/>
freundlichen großen Manne zu Gefallen von dem, was er gern wissen möchte,<lb/>
mehr zu sagen, als es so ganz sicher weiß. Andrerseits können ungeschickte<lb/>
Fragen mit schwer verständlichen Ausdrücken die Wirkung haben, daß das Kind<lb/>
den Kopf verliert und für den Augenblick wenigstens vollständig vergißt, was<lb/>
ihm noch unmittelbar vorher klar bewußt gewesen ist. Und alle diese Schwierig¬<lb/>
keiten und Gefahren treten schon auf, selbst wenn überall der freie gute Wille,<lb/>
&#x201E;nichts als die Wahrheit und die ganze Wahrheit" (wie sich der Locke xsiM<lb/>
Napoleons ausdrückt) zu sagen, vollständig vorhanden ist. Wenn man dazu<lb/>
noch erwägt, daß in unserm heutigen Recht das bloße &#x201E;Lügen vor Gericht,"<lb/>
wenn es nur nicht beschworen wird, mit keinen Strafen verbunden ist, dann<lb/>
kann man sich nur wundern, daß nicht noch viel häufiger die Fälle vorkommen,<lb/>
wo bewußte Lügen oder leichtsinnige UnWahrhaftigkeit für unschuldig Ver¬<lb/>
dächtigte verhängnisvoll werden. Natürlich ist hier nicht das &#x201E;Leugnen"<lb/>
eines Angeschuldigten gemeint, das nach dem heutigen Strafrecht eben sein<lb/>
Recht ist und unverkürzt bleiben soll; aber die bei vielen Personen ^ die zwar<lb/>
als Zeugen vernommen werden, aber nicht vereidigt werden können, immer<lb/>
dringlicher hervortretende Notwendigkeit, auch wegen wissentlich falscher Aus¬<lb/>
sagen Strafen verhängen zu können, verlangt doch eine Änderung der Gesetz¬<lb/>
gebung, die sich auch auf die Bestrafung junger, also nicht eidesmündiger,<lb/>
lügnerischer Zeugen erstrecken müßte.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Rousseaus Einfluß auf die französische Revolution<lb/>
und die Sozialdemokratie<lb/><note type="byline"> Albert Lhalyba'us</note> von</head><lb/>
          <p xml:id="ID_2385" next="#ID_2386"> cum Lombroso in seiner &#x201E;Naturgeschichte des Verbrechers" von<lb/>
Rousseau behauptet, daß er etwas von einem Diebe und einem<lb/>
Vagabunden an sich gehabt habe, so erscheint dieses Urteil zu¬<lb/>
nächst sehr hart; es erweist sich aber doch als durchaus zutreffend,<lb/>
wenn man sein Leben und seine Werke genauer betrachtet. Denn<lb/>
nicht nur, daß er, man kann fast sagen, unstet von einem Ort zum andern<lb/>
aus eignem Antrieb oder durch eigne Schuld wanderte, so hat er auch in seinen<lb/>
litterarischen Arbeiten wenig eigne, neue Ideen zu Tage gefördert. Vielmehr<lb/>
hat er diese zum größten Teil von andern Denkern entlehnt, z. B. den größten</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0695] Rousseaus Einfluß auf die französische Revolution ehe er auf die ihn allein interessierende Thatsache übergeht; allein auch dies kann die Gefahr mit sich führen, daß das Kind dazu verleitet wird, dem freundlichen großen Manne zu Gefallen von dem, was er gern wissen möchte, mehr zu sagen, als es so ganz sicher weiß. Andrerseits können ungeschickte Fragen mit schwer verständlichen Ausdrücken die Wirkung haben, daß das Kind den Kopf verliert und für den Augenblick wenigstens vollständig vergißt, was ihm noch unmittelbar vorher klar bewußt gewesen ist. Und alle diese Schwierig¬ keiten und Gefahren treten schon auf, selbst wenn überall der freie gute Wille, „nichts als die Wahrheit und die ganze Wahrheit" (wie sich der Locke xsiM Napoleons ausdrückt) zu sagen, vollständig vorhanden ist. Wenn man dazu noch erwägt, daß in unserm heutigen Recht das bloße „Lügen vor Gericht," wenn es nur nicht beschworen wird, mit keinen Strafen verbunden ist, dann kann man sich nur wundern, daß nicht noch viel häufiger die Fälle vorkommen, wo bewußte Lügen oder leichtsinnige UnWahrhaftigkeit für unschuldig Ver¬ dächtigte verhängnisvoll werden. Natürlich ist hier nicht das „Leugnen" eines Angeschuldigten gemeint, das nach dem heutigen Strafrecht eben sein Recht ist und unverkürzt bleiben soll; aber die bei vielen Personen ^ die zwar als Zeugen vernommen werden, aber nicht vereidigt werden können, immer dringlicher hervortretende Notwendigkeit, auch wegen wissentlich falscher Aus¬ sagen Strafen verhängen zu können, verlangt doch eine Änderung der Gesetz¬ gebung, die sich auch auf die Bestrafung junger, also nicht eidesmündiger, lügnerischer Zeugen erstrecken müßte. Rousseaus Einfluß auf die französische Revolution und die Sozialdemokratie Albert Lhalyba'us von cum Lombroso in seiner „Naturgeschichte des Verbrechers" von Rousseau behauptet, daß er etwas von einem Diebe und einem Vagabunden an sich gehabt habe, so erscheint dieses Urteil zu¬ nächst sehr hart; es erweist sich aber doch als durchaus zutreffend, wenn man sein Leben und seine Werke genauer betrachtet. Denn nicht nur, daß er, man kann fast sagen, unstet von einem Ort zum andern aus eignem Antrieb oder durch eigne Schuld wanderte, so hat er auch in seinen litterarischen Arbeiten wenig eigne, neue Ideen zu Tage gefördert. Vielmehr hat er diese zum größten Teil von andern Denkern entlehnt, z. B. den größten

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/695
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/695>, abgerufen am 30.04.2024.