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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Viertes Vierteljahr.

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Allerhand Rüstzeug und Waffen des ^trafrichters
Btto Hagen von

us Jakob Grimms Deutschen Rechtsaltertümern können wir uns
ein Bild des ursprünglichen germanischen Gerichtsverfahrens zu¬
sammenstellen. Im Walde, "unter breitschattenden Bäumen,"
häufig sind es Eichen, noch häufiger Linden, auf Auen und
Wiesen, in der Nähe eines Wassers, in Tiefen und Gruben, auf
Berg und Hügel, bei großen Steinen, vor dem Thor auf der Straße, später
mit besondrer Vorliebe vor dem Kirchthor und auf dem Kirchhofe versammelten
sich zum ungebotnen oder gebotnen Gerichte die Genossen und Nachbarn, in
deren Händen ursprünglich die Kraft des Urteils und der Entscheidung lag.
Da die Nachbarn zugleich die Wahrheit der Thatumstände wissen, bezeugen und
beschwören konnten, so leuchtet ein, daß in vielen Füllen die Zeugen Urtciler
waren, und daß im Altertum die Verrichtungen der Urteiler, Zeugen und Eides¬
helfer vielfach unter einander fließen mußten. Das abgelegte giltige Zeugnis
entschied die Sache, ohne daß vom Gericht noch ein Urteil gefunden zu werden
brauchte; indem der Zeuge die Wahrheit sagte, sprach er in der That das
Urteil; faktische Wahrheit und Rechtswahrheit (Rechtskraft nach heutigem Sprach¬
gebrauche) werden in solchen Fällen eins, die aufgernfnen Mitmärker, die
"animierten" zugezognen Zeugen waren alsdann die urteilenden Rachimburgen.
Abstimmende Urteiler pflegten wohl mit einem sg-too msliori zu schließen:
"swerz bezzer weiz desselben jeher" oder "künne anders ieman ist gesagen, der
spreche sunder unum zorn." Ein gefundnes Urteil anfechten hieß: es schelten
oder strafen. Auch wer nicht Partei war, ein bloß umstehender schöffenbarer
Mann, durfte das Urteil schelten, das ihm nicht recht gewiesen schien; ein
solcher mußte sich aber unverzüglich selbst auf die Bank setzen und ein besseres
weisen oder Buße erlegen.

So ungefüge uns dieses Verfahren anmutet, so brauchen wir doch nicht
zu zweifeln, daß es für seine Zeit seinen Zweck erfüllt hat; vor allem hat es
einen Vorzug: jedes Mitglied der urteilenden Gemeinde, das über den Ge¬
nossen zu Gerichte saß (mit Landfremden machte man ja überhaupt weniger
Umstünde), kannte den Angeklagten und kannte das Verbrechen. Jeder wußte,
was von dem Verbrechen überhaupt zu wissen war, und jeder wußte oder




Allerhand Rüstzeug und Waffen des ^trafrichters
Btto Hagen von

us Jakob Grimms Deutschen Rechtsaltertümern können wir uns
ein Bild des ursprünglichen germanischen Gerichtsverfahrens zu¬
sammenstellen. Im Walde, „unter breitschattenden Bäumen,"
häufig sind es Eichen, noch häufiger Linden, auf Auen und
Wiesen, in der Nähe eines Wassers, in Tiefen und Gruben, auf
Berg und Hügel, bei großen Steinen, vor dem Thor auf der Straße, später
mit besondrer Vorliebe vor dem Kirchthor und auf dem Kirchhofe versammelten
sich zum ungebotnen oder gebotnen Gerichte die Genossen und Nachbarn, in
deren Händen ursprünglich die Kraft des Urteils und der Entscheidung lag.
Da die Nachbarn zugleich die Wahrheit der Thatumstände wissen, bezeugen und
beschwören konnten, so leuchtet ein, daß in vielen Füllen die Zeugen Urtciler
waren, und daß im Altertum die Verrichtungen der Urteiler, Zeugen und Eides¬
helfer vielfach unter einander fließen mußten. Das abgelegte giltige Zeugnis
entschied die Sache, ohne daß vom Gericht noch ein Urteil gefunden zu werden
brauchte; indem der Zeuge die Wahrheit sagte, sprach er in der That das
Urteil; faktische Wahrheit und Rechtswahrheit (Rechtskraft nach heutigem Sprach¬
gebrauche) werden in solchen Fällen eins, die aufgernfnen Mitmärker, die
„animierten" zugezognen Zeugen waren alsdann die urteilenden Rachimburgen.
Abstimmende Urteiler pflegten wohl mit einem sg-too msliori zu schließen:
„swerz bezzer weiz desselben jeher" oder „künne anders ieman ist gesagen, der
spreche sunder unum zorn." Ein gefundnes Urteil anfechten hieß: es schelten
oder strafen. Auch wer nicht Partei war, ein bloß umstehender schöffenbarer
Mann, durfte das Urteil schelten, das ihm nicht recht gewiesen schien; ein
solcher mußte sich aber unverzüglich selbst auf die Bank setzen und ein besseres
weisen oder Buße erlegen.

So ungefüge uns dieses Verfahren anmutet, so brauchen wir doch nicht
zu zweifeln, daß es für seine Zeit seinen Zweck erfüllt hat; vor allem hat es
einen Vorzug: jedes Mitglied der urteilenden Gemeinde, das über den Ge¬
nossen zu Gerichte saß (mit Landfremden machte man ja überhaupt weniger
Umstünde), kannte den Angeklagten und kannte das Verbrechen. Jeder wußte,
was von dem Verbrechen überhaupt zu wissen war, und jeder wußte oder


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[0195] [Abbildung] Allerhand Rüstzeug und Waffen des ^trafrichters Btto Hagen von us Jakob Grimms Deutschen Rechtsaltertümern können wir uns ein Bild des ursprünglichen germanischen Gerichtsverfahrens zu¬ sammenstellen. Im Walde, „unter breitschattenden Bäumen," häufig sind es Eichen, noch häufiger Linden, auf Auen und Wiesen, in der Nähe eines Wassers, in Tiefen und Gruben, auf Berg und Hügel, bei großen Steinen, vor dem Thor auf der Straße, später mit besondrer Vorliebe vor dem Kirchthor und auf dem Kirchhofe versammelten sich zum ungebotnen oder gebotnen Gerichte die Genossen und Nachbarn, in deren Händen ursprünglich die Kraft des Urteils und der Entscheidung lag. Da die Nachbarn zugleich die Wahrheit der Thatumstände wissen, bezeugen und beschwören konnten, so leuchtet ein, daß in vielen Füllen die Zeugen Urtciler waren, und daß im Altertum die Verrichtungen der Urteiler, Zeugen und Eides¬ helfer vielfach unter einander fließen mußten. Das abgelegte giltige Zeugnis entschied die Sache, ohne daß vom Gericht noch ein Urteil gefunden zu werden brauchte; indem der Zeuge die Wahrheit sagte, sprach er in der That das Urteil; faktische Wahrheit und Rechtswahrheit (Rechtskraft nach heutigem Sprach¬ gebrauche) werden in solchen Fällen eins, die aufgernfnen Mitmärker, die „animierten" zugezognen Zeugen waren alsdann die urteilenden Rachimburgen. Abstimmende Urteiler pflegten wohl mit einem sg-too msliori zu schließen: „swerz bezzer weiz desselben jeher" oder „künne anders ieman ist gesagen, der spreche sunder unum zorn." Ein gefundnes Urteil anfechten hieß: es schelten oder strafen. Auch wer nicht Partei war, ein bloß umstehender schöffenbarer Mann, durfte das Urteil schelten, das ihm nicht recht gewiesen schien; ein solcher mußte sich aber unverzüglich selbst auf die Bank setzen und ein besseres weisen oder Buße erlegen. So ungefüge uns dieses Verfahren anmutet, so brauchen wir doch nicht zu zweifeln, daß es für seine Zeit seinen Zweck erfüllt hat; vor allem hat es einen Vorzug: jedes Mitglied der urteilenden Gemeinde, das über den Ge¬ nossen zu Gerichte saß (mit Landfremden machte man ja überhaupt weniger Umstünde), kannte den Angeklagten und kannte das Verbrechen. Jeder wußte, was von dem Verbrechen überhaupt zu wissen war, und jeder wußte oder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231811/195>, abgerufen am 07.05.2024.