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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Viertes Vierteljahr.

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Zur baltischen Frage und zu ihrer Lösung

Der Verfasser dieses Aufsatzes ist allerdings durch keine langen Familien¬
traditionen mit den Ostseeprovinzen verbunden, da erst seine beiden Großväter
aus Deutschland eingewandert sind, er hat aber noch zu einer Zeit seine Aus¬
bildung erhalten, wo der ganze Schulunterricht in den baltischen Provinzen
sowie das Studium an der Dorpater Universität vollständig deutsch waren.
Er hat ferner mehr als zehn Jahre lang in den verschiedensten Teilen Ru߬
lands gelebt und möchte im folgenden seine Ansichten über die baltische
Frage auseinandersetzen, die ja keine Weltfrage ist und eigentlich nur für ein
paar Tausende des Millionenreichs von großer Bedeutung ist. Gerade die
erwähnten Eigenschaften des Verfassers und der Umstand, daß er Land und
Leute Rußlands näher kennt, befähigen ihn vielleicht, ein ruhigeres Urteil zu
fällen, als die Ballen, die ihr Leben lang in der Heimat gewirkt haben und
durch Arbeit und Tradition zu eng mit ihr verwachsen sind, als daß sie ein
Urteil sing irg, se stnäio füllen könnten.

1^. Das Verhältnis der Gstseeprovinzen zu Rußland in der Vergangenheit

Der Mangel einer Seeküste war für das alte Zarenreich seit lange ein
großer politischer Nachteil, da er es zu einer politischen Abhängigkeit von den
Nachbarstaaten Polen und Schweden verurteilte. Deshalb wurde schon von
alters her ein beständiger Kampf zwischen Moskau und Schweden geführt, der
sich meist in Ingermanland und Esthland abspielte; aber auch Livland hatte
unter dem Strebe" Moskaus, an die Küste zu gelangen, schwer zu leiden.

Die Ballen hatten sich immer in richtigem Gefühl den Bestrebungen
Rußlands gegenüber feindselig verhalten und sechs Jahrhunderte lang zum
Teil mit fremder Hilfe die Angriffe der östlichen Nachbarn zurückgeschlagen.
Erst als am Ende des siebzehnten Jahrhunderts der baltische Adel durch die
"Reduktionen" der schwedischen Krone in seinen Privatinteressen geschädigt
wurde, sand ein Frontwechsel statt, und das Geschick der Ostseeprovinzen
wurde mit dem des frühern Gegners verknüpft. Mehr als jede andre
Erwerbung hat die Vereinigung der Ostseeprovinzen mit Rußland dieses
politisch und ökonomisch gestärkt. Das protestantische, bis dahin mächtige
Schweden mußte abtreten und seine Rolle Rußland überlassen. Wie weit
das einen Segen für Europa bedeutet, wird wohl überall verschiede" beurteilt
werde".

Für die Ostseeprovinzen war dieser Wechsel anfangs eine entschiedn? Wohl¬
that, denn er hob ihr Ansehen und ihre Bedeutung beträchtlich. Rußland,
innerlich noch wenig befestigt, am Anfang einer neuen Ära, mußte diese Er¬
werbung hochschätzen, die ihm "ein Fenster nach Europa" bedeutete, die es be¬
fähigte, auf dem Seewege, ohne fremde Grenzen zu durchschneide", mit der
ganzen Welt in Verbindung zu treten, und die ihm eine große Menge euro¬
päisch gebildeter Bürger als eigne Unterthauen zuführte. Sich ihre Treue zu


Zur baltischen Frage und zu ihrer Lösung

Der Verfasser dieses Aufsatzes ist allerdings durch keine langen Familien¬
traditionen mit den Ostseeprovinzen verbunden, da erst seine beiden Großväter
aus Deutschland eingewandert sind, er hat aber noch zu einer Zeit seine Aus¬
bildung erhalten, wo der ganze Schulunterricht in den baltischen Provinzen
sowie das Studium an der Dorpater Universität vollständig deutsch waren.
Er hat ferner mehr als zehn Jahre lang in den verschiedensten Teilen Ru߬
lands gelebt und möchte im folgenden seine Ansichten über die baltische
Frage auseinandersetzen, die ja keine Weltfrage ist und eigentlich nur für ein
paar Tausende des Millionenreichs von großer Bedeutung ist. Gerade die
erwähnten Eigenschaften des Verfassers und der Umstand, daß er Land und
Leute Rußlands näher kennt, befähigen ihn vielleicht, ein ruhigeres Urteil zu
fällen, als die Ballen, die ihr Leben lang in der Heimat gewirkt haben und
durch Arbeit und Tradition zu eng mit ihr verwachsen sind, als daß sie ein
Urteil sing irg, se stnäio füllen könnten.

1^. Das Verhältnis der Gstseeprovinzen zu Rußland in der Vergangenheit

Der Mangel einer Seeküste war für das alte Zarenreich seit lange ein
großer politischer Nachteil, da er es zu einer politischen Abhängigkeit von den
Nachbarstaaten Polen und Schweden verurteilte. Deshalb wurde schon von
alters her ein beständiger Kampf zwischen Moskau und Schweden geführt, der
sich meist in Ingermanland und Esthland abspielte; aber auch Livland hatte
unter dem Strebe» Moskaus, an die Küste zu gelangen, schwer zu leiden.

Die Ballen hatten sich immer in richtigem Gefühl den Bestrebungen
Rußlands gegenüber feindselig verhalten und sechs Jahrhunderte lang zum
Teil mit fremder Hilfe die Angriffe der östlichen Nachbarn zurückgeschlagen.
Erst als am Ende des siebzehnten Jahrhunderts der baltische Adel durch die
„Reduktionen" der schwedischen Krone in seinen Privatinteressen geschädigt
wurde, sand ein Frontwechsel statt, und das Geschick der Ostseeprovinzen
wurde mit dem des frühern Gegners verknüpft. Mehr als jede andre
Erwerbung hat die Vereinigung der Ostseeprovinzen mit Rußland dieses
politisch und ökonomisch gestärkt. Das protestantische, bis dahin mächtige
Schweden mußte abtreten und seine Rolle Rußland überlassen. Wie weit
das einen Segen für Europa bedeutet, wird wohl überall verschiede» beurteilt
werde».

Für die Ostseeprovinzen war dieser Wechsel anfangs eine entschiedn? Wohl¬
that, denn er hob ihr Ansehen und ihre Bedeutung beträchtlich. Rußland,
innerlich noch wenig befestigt, am Anfang einer neuen Ära, mußte diese Er¬
werbung hochschätzen, die ihm „ein Fenster nach Europa" bedeutete, die es be¬
fähigte, auf dem Seewege, ohne fremde Grenzen zu durchschneide», mit der
ganzen Welt in Verbindung zu treten, und die ihm eine große Menge euro¬
päisch gebildeter Bürger als eigne Unterthauen zuführte. Sich ihre Treue zu


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[0488] Zur baltischen Frage und zu ihrer Lösung Der Verfasser dieses Aufsatzes ist allerdings durch keine langen Familien¬ traditionen mit den Ostseeprovinzen verbunden, da erst seine beiden Großväter aus Deutschland eingewandert sind, er hat aber noch zu einer Zeit seine Aus¬ bildung erhalten, wo der ganze Schulunterricht in den baltischen Provinzen sowie das Studium an der Dorpater Universität vollständig deutsch waren. Er hat ferner mehr als zehn Jahre lang in den verschiedensten Teilen Ru߬ lands gelebt und möchte im folgenden seine Ansichten über die baltische Frage auseinandersetzen, die ja keine Weltfrage ist und eigentlich nur für ein paar Tausende des Millionenreichs von großer Bedeutung ist. Gerade die erwähnten Eigenschaften des Verfassers und der Umstand, daß er Land und Leute Rußlands näher kennt, befähigen ihn vielleicht, ein ruhigeres Urteil zu fällen, als die Ballen, die ihr Leben lang in der Heimat gewirkt haben und durch Arbeit und Tradition zu eng mit ihr verwachsen sind, als daß sie ein Urteil sing irg, se stnäio füllen könnten. 1^. Das Verhältnis der Gstseeprovinzen zu Rußland in der Vergangenheit Der Mangel einer Seeküste war für das alte Zarenreich seit lange ein großer politischer Nachteil, da er es zu einer politischen Abhängigkeit von den Nachbarstaaten Polen und Schweden verurteilte. Deshalb wurde schon von alters her ein beständiger Kampf zwischen Moskau und Schweden geführt, der sich meist in Ingermanland und Esthland abspielte; aber auch Livland hatte unter dem Strebe» Moskaus, an die Küste zu gelangen, schwer zu leiden. Die Ballen hatten sich immer in richtigem Gefühl den Bestrebungen Rußlands gegenüber feindselig verhalten und sechs Jahrhunderte lang zum Teil mit fremder Hilfe die Angriffe der östlichen Nachbarn zurückgeschlagen. Erst als am Ende des siebzehnten Jahrhunderts der baltische Adel durch die „Reduktionen" der schwedischen Krone in seinen Privatinteressen geschädigt wurde, sand ein Frontwechsel statt, und das Geschick der Ostseeprovinzen wurde mit dem des frühern Gegners verknüpft. Mehr als jede andre Erwerbung hat die Vereinigung der Ostseeprovinzen mit Rußland dieses politisch und ökonomisch gestärkt. Das protestantische, bis dahin mächtige Schweden mußte abtreten und seine Rolle Rußland überlassen. Wie weit das einen Segen für Europa bedeutet, wird wohl überall verschiede» beurteilt werde». Für die Ostseeprovinzen war dieser Wechsel anfangs eine entschiedn? Wohl¬ that, denn er hob ihr Ansehen und ihre Bedeutung beträchtlich. Rußland, innerlich noch wenig befestigt, am Anfang einer neuen Ära, mußte diese Er¬ werbung hochschätzen, die ihm „ein Fenster nach Europa" bedeutete, die es be¬ fähigte, auf dem Seewege, ohne fremde Grenzen zu durchschneide», mit der ganzen Welt in Verbindung zu treten, und die ihm eine große Menge euro¬ päisch gebildeter Bürger als eigne Unterthauen zuführte. Sich ihre Treue zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231811/488>, abgerufen am 07.05.2024.