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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Viertes Vierteljahr.

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Zur baltischen Frage und zu ihrer Lösung

verschieden. Der Balle war wie jeder Fremde dem Russen ein "Bussurmann"
(entstellt aus Mussulmann), er galt für umgetauft, und einmal im Jahre wurde
er mit allen Ketzern vom Altar aus verflucht, was erst in der jüngsten
Zeit abgestellt worden ist; in der Litteratur erschien der ^jsinsö entweder als
Dummkopf oder als hartherziger und hinterlistiger Intrigant und Blutsauger.
So waren denn die Bedingungen für die Entwicklung intimerer Beziehungen
auf beiden Seiten durchaus ungünstig; die Schuld daran einzig und allein dem
Ballen zuzuschreiben, den Russen dagegen als sentimentale Jungfrau hin¬
zustellen, die eine Schlange an ihrem Busen genährt hat, ist lächerlich.

Zur Ehre der Russen sei aber bemerkt, daß ein großer Teil der wirklich
gebildeten Russen den Verdiensten der Ballen um Kaiser und Reich Gerechtig¬
keit widerfahren läßt und einer objektiven Beurteilung des gegenseitigen Ver¬
hältnisses zugänglich ist. Die größere Mehrzahl des zeitunglesenden Publikums
ist leider noch durchaus unfähig, ein selbständiges Urteil zu fällen, und betet
nach, was das von ihm gelesene Blatt ihm vorschwatzt: liest es die Noslcovslch'g,
>Veäom08ti oder den Z^vjöt, so ist es bereit, alle Fremden, die Ballen an der
Spitze, an dem ersten besten Laternenpfahl aufzuhängen; liest es dagegen den
^Vsstnilc ^svropij, so ist es objektivem und mildern Gefühlen zugänglich. Der
Bauer und der Arbeiter in Nußland sind durchaus tolerant und gutherzig,
aber politisch völlig unzurechnungsfähig und unzuverlässig; sie stehen bedeutend
unter dem Einfluß der Geistlichkeit, die den Fremden im allgemeinen feindlich
gesinnt ist.

Somit läßt sich also behaupten, daß die Vergangenheit kein intimeres
Band zwischen Ballen und Russen geknüpft hat: der Balle hat sich in Ru߬
land immer als Fremder gefühlt, und der Russe hat ihn jederzeit als auf¬
gedrängten Lehrmeister, meist aber als lästigen Eindringling angesehen. Sogar
die Bestrebungen Peters des Großen, Rußland zu einem europäischen Staate
zu machen, finden ja noch heute bei vielen Russen nur sehr geringe An¬
erkennung, und von einem großen Teil der russischen Presse wird Rußland in
einem Gegensatz zu Europa aufgefaßt, wobei es natürlich dem "faulen Westen"
als Urbild von Kraft und Sittlichkeit vorgehalten wird (trotz der großen Mor¬
talität und Morbidität, trotz der chronischen Hungersnöte, der sehr verbreiteten
Trunksucht und Bettelei, der Bestechlichkeit usw.).


2. Das Verhältnis der Vstseeproviuzen zu Rußland in der Gegenwart

Die Rolle, die die Ostseeprovinzen und die Ballen in und sür Rußland
spielten, mußte sich notwendigerweise im Laufe der Zeiten ändern. Der
Schüler wächst eben heran, lernt selbständig denken und urteilen, es wächst
sein Selbstvertrauen und Selbstbewußtsein, und es sinkt die Autorität des
Lehrers. Wenn nicht Liebe den Schüler mit dem Lehrer verbindet, sondern
nur die starre Disziplin, so wird diese mit der Zeit gelockert, und ein feind-


Zur baltischen Frage und zu ihrer Lösung

verschieden. Der Balle war wie jeder Fremde dem Russen ein „Bussurmann"
(entstellt aus Mussulmann), er galt für umgetauft, und einmal im Jahre wurde
er mit allen Ketzern vom Altar aus verflucht, was erst in der jüngsten
Zeit abgestellt worden ist; in der Litteratur erschien der ^jsinsö entweder als
Dummkopf oder als hartherziger und hinterlistiger Intrigant und Blutsauger.
So waren denn die Bedingungen für die Entwicklung intimerer Beziehungen
auf beiden Seiten durchaus ungünstig; die Schuld daran einzig und allein dem
Ballen zuzuschreiben, den Russen dagegen als sentimentale Jungfrau hin¬
zustellen, die eine Schlange an ihrem Busen genährt hat, ist lächerlich.

Zur Ehre der Russen sei aber bemerkt, daß ein großer Teil der wirklich
gebildeten Russen den Verdiensten der Ballen um Kaiser und Reich Gerechtig¬
keit widerfahren läßt und einer objektiven Beurteilung des gegenseitigen Ver¬
hältnisses zugänglich ist. Die größere Mehrzahl des zeitunglesenden Publikums
ist leider noch durchaus unfähig, ein selbständiges Urteil zu fällen, und betet
nach, was das von ihm gelesene Blatt ihm vorschwatzt: liest es die Noslcovslch'g,
>Veäom08ti oder den Z^vjöt, so ist es bereit, alle Fremden, die Ballen an der
Spitze, an dem ersten besten Laternenpfahl aufzuhängen; liest es dagegen den
^Vsstnilc ^svropij, so ist es objektivem und mildern Gefühlen zugänglich. Der
Bauer und der Arbeiter in Nußland sind durchaus tolerant und gutherzig,
aber politisch völlig unzurechnungsfähig und unzuverlässig; sie stehen bedeutend
unter dem Einfluß der Geistlichkeit, die den Fremden im allgemeinen feindlich
gesinnt ist.

Somit läßt sich also behaupten, daß die Vergangenheit kein intimeres
Band zwischen Ballen und Russen geknüpft hat: der Balle hat sich in Ru߬
land immer als Fremder gefühlt, und der Russe hat ihn jederzeit als auf¬
gedrängten Lehrmeister, meist aber als lästigen Eindringling angesehen. Sogar
die Bestrebungen Peters des Großen, Rußland zu einem europäischen Staate
zu machen, finden ja noch heute bei vielen Russen nur sehr geringe An¬
erkennung, und von einem großen Teil der russischen Presse wird Rußland in
einem Gegensatz zu Europa aufgefaßt, wobei es natürlich dem „faulen Westen"
als Urbild von Kraft und Sittlichkeit vorgehalten wird (trotz der großen Mor¬
talität und Morbidität, trotz der chronischen Hungersnöte, der sehr verbreiteten
Trunksucht und Bettelei, der Bestechlichkeit usw.).


2. Das Verhältnis der Vstseeproviuzen zu Rußland in der Gegenwart

Die Rolle, die die Ostseeprovinzen und die Ballen in und sür Rußland
spielten, mußte sich notwendigerweise im Laufe der Zeiten ändern. Der
Schüler wächst eben heran, lernt selbständig denken und urteilen, es wächst
sein Selbstvertrauen und Selbstbewußtsein, und es sinkt die Autorität des
Lehrers. Wenn nicht Liebe den Schüler mit dem Lehrer verbindet, sondern
nur die starre Disziplin, so wird diese mit der Zeit gelockert, und ein feind-


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[0490] Zur baltischen Frage und zu ihrer Lösung verschieden. Der Balle war wie jeder Fremde dem Russen ein „Bussurmann" (entstellt aus Mussulmann), er galt für umgetauft, und einmal im Jahre wurde er mit allen Ketzern vom Altar aus verflucht, was erst in der jüngsten Zeit abgestellt worden ist; in der Litteratur erschien der ^jsinsö entweder als Dummkopf oder als hartherziger und hinterlistiger Intrigant und Blutsauger. So waren denn die Bedingungen für die Entwicklung intimerer Beziehungen auf beiden Seiten durchaus ungünstig; die Schuld daran einzig und allein dem Ballen zuzuschreiben, den Russen dagegen als sentimentale Jungfrau hin¬ zustellen, die eine Schlange an ihrem Busen genährt hat, ist lächerlich. Zur Ehre der Russen sei aber bemerkt, daß ein großer Teil der wirklich gebildeten Russen den Verdiensten der Ballen um Kaiser und Reich Gerechtig¬ keit widerfahren läßt und einer objektiven Beurteilung des gegenseitigen Ver¬ hältnisses zugänglich ist. Die größere Mehrzahl des zeitunglesenden Publikums ist leider noch durchaus unfähig, ein selbständiges Urteil zu fällen, und betet nach, was das von ihm gelesene Blatt ihm vorschwatzt: liest es die Noslcovslch'g, >Veäom08ti oder den Z^vjöt, so ist es bereit, alle Fremden, die Ballen an der Spitze, an dem ersten besten Laternenpfahl aufzuhängen; liest es dagegen den ^Vsstnilc ^svropij, so ist es objektivem und mildern Gefühlen zugänglich. Der Bauer und der Arbeiter in Nußland sind durchaus tolerant und gutherzig, aber politisch völlig unzurechnungsfähig und unzuverlässig; sie stehen bedeutend unter dem Einfluß der Geistlichkeit, die den Fremden im allgemeinen feindlich gesinnt ist. Somit läßt sich also behaupten, daß die Vergangenheit kein intimeres Band zwischen Ballen und Russen geknüpft hat: der Balle hat sich in Ru߬ land immer als Fremder gefühlt, und der Russe hat ihn jederzeit als auf¬ gedrängten Lehrmeister, meist aber als lästigen Eindringling angesehen. Sogar die Bestrebungen Peters des Großen, Rußland zu einem europäischen Staate zu machen, finden ja noch heute bei vielen Russen nur sehr geringe An¬ erkennung, und von einem großen Teil der russischen Presse wird Rußland in einem Gegensatz zu Europa aufgefaßt, wobei es natürlich dem „faulen Westen" als Urbild von Kraft und Sittlichkeit vorgehalten wird (trotz der großen Mor¬ talität und Morbidität, trotz der chronischen Hungersnöte, der sehr verbreiteten Trunksucht und Bettelei, der Bestechlichkeit usw.). 2. Das Verhältnis der Vstseeproviuzen zu Rußland in der Gegenwart Die Rolle, die die Ostseeprovinzen und die Ballen in und sür Rußland spielten, mußte sich notwendigerweise im Laufe der Zeiten ändern. Der Schüler wächst eben heran, lernt selbständig denken und urteilen, es wächst sein Selbstvertrauen und Selbstbewußtsein, und es sinkt die Autorität des Lehrers. Wenn nicht Liebe den Schüler mit dem Lehrer verbindet, sondern nur die starre Disziplin, so wird diese mit der Zeit gelockert, und ein feind-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231811/490>, abgerufen am 07.05.2024.