Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Lriefe eines Zurückgekehrten

römischen Geschichte gewährt, unzweifelhaft. Der größte Nutzen aber, den die
Beschäftigung mit der alten Geschichte stiftet, dürfte darin besteh", daß sie von
der providentiellen Leitung der Weltgeschichte überzeugt. Wo die Entwicklung
der christlichen Zeit hinaus will, das wissen wir noch nicht, daher gelingt es
auch nicht, von ihren einzelnen Abschnitten und Wandlungen den ideologischen
Sinn zu erraten. In der alten Geschichte giebts nichts zu erraten. Sie
liegt abgeschlossen hinter uns, und ihr Zweck ist offenbar. Nur dem Ver¬
bohrten oder dem Oberflächlichen und Unwissenden kann er verborgen bleiben,
und wer diese Geschichte und ihren Zusammenhang mit der neuern genau
kennt, der kann nimmermehr dem Irrtum der materialistischen Gcschichts-
A. I. tonstruktion verfallen.




Briefe eines Zurückgekehrten
4

es liebe die Landschaften über alles, die uns in das Wesen eines
Landes und in das Herz eines Volks einführen. Wir leben
Monate unter einem Volke und glauben viel davon zu kennen,
da erschließt sich uns das stille Heim irgend einer unscheinbaren
Familie, und wir machen in den paar Zimmern, in den Haus¬
geräten, in dem vertraulich plaudernden Kreis offner Menschen, unter einem
Baum oder vor einem Kamin Entdeckungen, die wir niemals geahnt hatten.
Wir haben einen Blick in das Innerste des Volks gethan, gerade den Blick,
der den meisten Besuchern fremder Länder so selten zu teil wird. Es giebt
auch Landschaften, die uns so einführen. Newyork ist eine europäische Kolonie,
die Umgebungen von Newyork haben nichts charakteristisches; erst eine Hudson¬
fahrt bis Albany hinauf ist ein erster Schritt zur Kenntnis Nordamerikas.
Aber doch nur ein Schrittchen. Die Seebadeorte an der gegenüberliegenden
Küste von Long Island sehen gerade so englisch aus, wie gewisse Straßen von
Newyork deutsch. Ich habe einen tiefen Blick in das Eigentümliche von Nord¬
amerika erst gethan, als ich in einem Landstädtchen von Neuengland lebte.
Eine von Kanada kommende Lotterbahn warf mich auf einer grünen Wiese
aus, die zu einem See von unwahrscheinlicher Bläue hinabzog. Diese Wiese
war von rötlichen Granitriffen durchzogen, und am Ufer lagen lose Blöcke
desselben Gesteins, auch diese aufdringlich rötlich. Sie schienen zu sagen:
Diese Wiese möchte weich und schwellend sein, und dieser See möchte sich
lieblich in den Himmel hinausdehnen. Es ist nicht? damit. Wir sind in


Lriefe eines Zurückgekehrten

römischen Geschichte gewährt, unzweifelhaft. Der größte Nutzen aber, den die
Beschäftigung mit der alten Geschichte stiftet, dürfte darin besteh», daß sie von
der providentiellen Leitung der Weltgeschichte überzeugt. Wo die Entwicklung
der christlichen Zeit hinaus will, das wissen wir noch nicht, daher gelingt es
auch nicht, von ihren einzelnen Abschnitten und Wandlungen den ideologischen
Sinn zu erraten. In der alten Geschichte giebts nichts zu erraten. Sie
liegt abgeschlossen hinter uns, und ihr Zweck ist offenbar. Nur dem Ver¬
bohrten oder dem Oberflächlichen und Unwissenden kann er verborgen bleiben,
und wer diese Geschichte und ihren Zusammenhang mit der neuern genau
kennt, der kann nimmermehr dem Irrtum der materialistischen Gcschichts-
A. I. tonstruktion verfallen.




Briefe eines Zurückgekehrten
4

es liebe die Landschaften über alles, die uns in das Wesen eines
Landes und in das Herz eines Volks einführen. Wir leben
Monate unter einem Volke und glauben viel davon zu kennen,
da erschließt sich uns das stille Heim irgend einer unscheinbaren
Familie, und wir machen in den paar Zimmern, in den Haus¬
geräten, in dem vertraulich plaudernden Kreis offner Menschen, unter einem
Baum oder vor einem Kamin Entdeckungen, die wir niemals geahnt hatten.
Wir haben einen Blick in das Innerste des Volks gethan, gerade den Blick,
der den meisten Besuchern fremder Länder so selten zu teil wird. Es giebt
auch Landschaften, die uns so einführen. Newyork ist eine europäische Kolonie,
die Umgebungen von Newyork haben nichts charakteristisches; erst eine Hudson¬
fahrt bis Albany hinauf ist ein erster Schritt zur Kenntnis Nordamerikas.
Aber doch nur ein Schrittchen. Die Seebadeorte an der gegenüberliegenden
Küste von Long Island sehen gerade so englisch aus, wie gewisse Straßen von
Newyork deutsch. Ich habe einen tiefen Blick in das Eigentümliche von Nord¬
amerika erst gethan, als ich in einem Landstädtchen von Neuengland lebte.
Eine von Kanada kommende Lotterbahn warf mich auf einer grünen Wiese
aus, die zu einem See von unwahrscheinlicher Bläue hinabzog. Diese Wiese
war von rötlichen Granitriffen durchzogen, und am Ufer lagen lose Blöcke
desselben Gesteins, auch diese aufdringlich rötlich. Sie schienen zu sagen:
Diese Wiese möchte weich und schwellend sein, und dieser See möchte sich
lieblich in den Himmel hinausdehnen. Es ist nicht? damit. Wir sind in


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0596" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/232408"/>
          <fw type="header" place="top"> Lriefe eines Zurückgekehrten</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2026" prev="#ID_2025"> römischen Geschichte gewährt, unzweifelhaft. Der größte Nutzen aber, den die<lb/>
Beschäftigung mit der alten Geschichte stiftet, dürfte darin besteh», daß sie von<lb/>
der providentiellen Leitung der Weltgeschichte überzeugt. Wo die Entwicklung<lb/>
der christlichen Zeit hinaus will, das wissen wir noch nicht, daher gelingt es<lb/>
auch nicht, von ihren einzelnen Abschnitten und Wandlungen den ideologischen<lb/>
Sinn zu erraten. In der alten Geschichte giebts nichts zu erraten. Sie<lb/>
liegt abgeschlossen hinter uns, und ihr Zweck ist offenbar. Nur dem Ver¬<lb/>
bohrten oder dem Oberflächlichen und Unwissenden kann er verborgen bleiben,<lb/>
und wer diese Geschichte und ihren Zusammenhang mit der neuern genau<lb/>
kennt, der kann nimmermehr dem Irrtum der materialistischen Gcschichts-<lb/><note type="byline"> A. I.</note> tonstruktion verfallen. </p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Briefe eines Zurückgekehrten<lb/>
4 </head><lb/>
          <p xml:id="ID_2027" next="#ID_2028"> es liebe die Landschaften über alles, die uns in das Wesen eines<lb/>
Landes und in das Herz eines Volks einführen. Wir leben<lb/>
Monate unter einem Volke und glauben viel davon zu kennen,<lb/>
da erschließt sich uns das stille Heim irgend einer unscheinbaren<lb/>
Familie, und wir machen in den paar Zimmern, in den Haus¬<lb/>
geräten, in dem vertraulich plaudernden Kreis offner Menschen, unter einem<lb/>
Baum oder vor einem Kamin Entdeckungen, die wir niemals geahnt hatten.<lb/>
Wir haben einen Blick in das Innerste des Volks gethan, gerade den Blick,<lb/>
der den meisten Besuchern fremder Länder so selten zu teil wird. Es giebt<lb/>
auch Landschaften, die uns so einführen. Newyork ist eine europäische Kolonie,<lb/>
die Umgebungen von Newyork haben nichts charakteristisches; erst eine Hudson¬<lb/>
fahrt bis Albany hinauf ist ein erster Schritt zur Kenntnis Nordamerikas.<lb/>
Aber doch nur ein Schrittchen. Die Seebadeorte an der gegenüberliegenden<lb/>
Küste von Long Island sehen gerade so englisch aus, wie gewisse Straßen von<lb/>
Newyork deutsch. Ich habe einen tiefen Blick in das Eigentümliche von Nord¬<lb/>
amerika erst gethan, als ich in einem Landstädtchen von Neuengland lebte.<lb/>
Eine von Kanada kommende Lotterbahn warf mich auf einer grünen Wiese<lb/>
aus, die zu einem See von unwahrscheinlicher Bläue hinabzog. Diese Wiese<lb/>
war von rötlichen Granitriffen durchzogen, und am Ufer lagen lose Blöcke<lb/>
desselben Gesteins, auch diese aufdringlich rötlich. Sie schienen zu sagen:<lb/>
Diese Wiese möchte weich und schwellend sein, und dieser See möchte sich<lb/>
lieblich in den Himmel hinausdehnen.  Es ist nicht? damit.  Wir sind in</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0596] Lriefe eines Zurückgekehrten römischen Geschichte gewährt, unzweifelhaft. Der größte Nutzen aber, den die Beschäftigung mit der alten Geschichte stiftet, dürfte darin besteh», daß sie von der providentiellen Leitung der Weltgeschichte überzeugt. Wo die Entwicklung der christlichen Zeit hinaus will, das wissen wir noch nicht, daher gelingt es auch nicht, von ihren einzelnen Abschnitten und Wandlungen den ideologischen Sinn zu erraten. In der alten Geschichte giebts nichts zu erraten. Sie liegt abgeschlossen hinter uns, und ihr Zweck ist offenbar. Nur dem Ver¬ bohrten oder dem Oberflächlichen und Unwissenden kann er verborgen bleiben, und wer diese Geschichte und ihren Zusammenhang mit der neuern genau kennt, der kann nimmermehr dem Irrtum der materialistischen Gcschichts- A. I. tonstruktion verfallen. Briefe eines Zurückgekehrten 4 es liebe die Landschaften über alles, die uns in das Wesen eines Landes und in das Herz eines Volks einführen. Wir leben Monate unter einem Volke und glauben viel davon zu kennen, da erschließt sich uns das stille Heim irgend einer unscheinbaren Familie, und wir machen in den paar Zimmern, in den Haus¬ geräten, in dem vertraulich plaudernden Kreis offner Menschen, unter einem Baum oder vor einem Kamin Entdeckungen, die wir niemals geahnt hatten. Wir haben einen Blick in das Innerste des Volks gethan, gerade den Blick, der den meisten Besuchern fremder Länder so selten zu teil wird. Es giebt auch Landschaften, die uns so einführen. Newyork ist eine europäische Kolonie, die Umgebungen von Newyork haben nichts charakteristisches; erst eine Hudson¬ fahrt bis Albany hinauf ist ein erster Schritt zur Kenntnis Nordamerikas. Aber doch nur ein Schrittchen. Die Seebadeorte an der gegenüberliegenden Küste von Long Island sehen gerade so englisch aus, wie gewisse Straßen von Newyork deutsch. Ich habe einen tiefen Blick in das Eigentümliche von Nord¬ amerika erst gethan, als ich in einem Landstädtchen von Neuengland lebte. Eine von Kanada kommende Lotterbahn warf mich auf einer grünen Wiese aus, die zu einem See von unwahrscheinlicher Bläue hinabzog. Diese Wiese war von rötlichen Granitriffen durchzogen, und am Ufer lagen lose Blöcke desselben Gesteins, auch diese aufdringlich rötlich. Sie schienen zu sagen: Diese Wiese möchte weich und schwellend sein, und dieser See möchte sich lieblich in den Himmel hinausdehnen. Es ist nicht? damit. Wir sind in

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231811/596
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231811/596>, abgerufen am 07.05.2024.