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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Kanonier Radegast

Für den 19, Juli 1821 wcir die Krönung des Königs angesetzt. Die
.Königin erklärte den Ministern, daß sie der Feierlichkeit beiwohnen, und dein
Erzbischof von Canterbury, daß sie einige Tage nach der Krönung des Königs
auch gekrönt sein wolle. Als sie sich jedoch am Krönungstage nach Westminster
begab, wurde sie am Eingang dnrch Polizeiorgane zurückgewiesen.

Am 30. Juli erkrankte sie im Drurhlauethenter nach dem Genuß eines
Glases Limonade plötzlich unter höchst bedenklichen Symptomen. Mit den
Worten: "Der König hat mich vergiften lassen!" brach sie zusammen. Am
7. August starb sie nach qualvollen Leiden an "Entzündung der Eingeweide,"
wie das Bulletin der Leibarzte lautete. Ihr letzter Wunsch war, an der Seite
ihres heldenmütigen Vaters in der Familiengruft zu Braunschweig beigesetzt
zu werden. Eine ungeheure Menschenmasse begleitete den Leichenzug von London
nach Harwich an der Meeresküste unter dein wütenden Geschrei: "Die Königin,
die ermordete Königin!"




Kanonier Radegast
Lrnst Johann Groth Line Skizze von

ir gingen dem Kanonier Radegast, der schon zu den altgedienter
Leuten gehörte, gern aus dem Wege. Er war el" verschlossener,
finstrer Mensch, zeigte sich zu kameradschaftlichen Scherzen nie auf¬
gelegt, sang nie mit, wenn die Leute auf dem Marsche oder in den
Kasematlen ihre Lieder anstimmten, und ging in freien Stunden
immer seine eignen Wege.

Die Kameraden rannten sich heimlich zu, daß Rndegast Grund zu diesem
schenen, finstern Wesen hätte. Er stammte ans einem verrufnen Strnnddorfe, dessen
Bewohner größtenteils von scetriftigem Gute lebten und deshalb keine größere
Gnade vom Himmel zu erflehen wußten, als andauernde Nordweststürme. Je mehr
Kutter und Schoner, BriggS und Barken auf die gefährliche Sandbank vor dem
Nnschwicker Strande geworfen wurden, desto ergiebiger war ihre Ernte. Gewöhnlich
wurden die Schiffer der gescheiterten Fahrzeuge gerettet, aber was aus dem Wrack
nicht gleich von ihnen mitgenommen wurde, das fiel gewöhnlich in die Hände der
beutelustigen Strandbewohner, die heimlich in der nächsten Nacht dem Wrack einen
Besuch abzustatten pflegten, es ausplünderten und so zerstörten, daß man schwer
feststellen konnte, ob die Brandung oder Stranddiebe den Inhalt weggenommen
hätten.

Hin und wieder wurde auch wohl der eine oder der andre bei seiner un¬
berechtigten Bergnngsarbeit abgefaßt und bestraft, aber ebenso wenig wie die Leute
in Rnschwick das unbefugte Holzhvlen aus dem Walde für Diebstnhl hielten, ebenso
wenig erschien ihnen die Ausübung des alten freien Strandrechts als eine Sünde
oder gar als ein strafwürdiges Verbrechen.

Einmal aber hatten diese Strandgeier ihre Räuberei denn doch zu weit ge¬
trieben. Eine mit Getreide belndne schwedische Bark war in einer stürmischen
Nacht auf die Sandbank geraten und war nicht wieder flott zu machen, obgleich
der Kapitän die Mafien hatte tappen und einen Teil der Ladung über Bord
werfen lassen. Das Schiff faß fest, es war nicht mehr zu retten. So begab sich
denn der Kapitän, nachdem er einen Manu als Wächter auf der Park zurückgelassen


Kanonier Radegast

Für den 19, Juli 1821 wcir die Krönung des Königs angesetzt. Die
.Königin erklärte den Ministern, daß sie der Feierlichkeit beiwohnen, und dein
Erzbischof von Canterbury, daß sie einige Tage nach der Krönung des Königs
auch gekrönt sein wolle. Als sie sich jedoch am Krönungstage nach Westminster
begab, wurde sie am Eingang dnrch Polizeiorgane zurückgewiesen.

Am 30. Juli erkrankte sie im Drurhlauethenter nach dem Genuß eines
Glases Limonade plötzlich unter höchst bedenklichen Symptomen. Mit den
Worten: „Der König hat mich vergiften lassen!" brach sie zusammen. Am
7. August starb sie nach qualvollen Leiden an „Entzündung der Eingeweide,"
wie das Bulletin der Leibarzte lautete. Ihr letzter Wunsch war, an der Seite
ihres heldenmütigen Vaters in der Familiengruft zu Braunschweig beigesetzt
zu werden. Eine ungeheure Menschenmasse begleitete den Leichenzug von London
nach Harwich an der Meeresküste unter dein wütenden Geschrei: „Die Königin,
die ermordete Königin!"




Kanonier Radegast
Lrnst Johann Groth Line Skizze von

ir gingen dem Kanonier Radegast, der schon zu den altgedienter
Leuten gehörte, gern aus dem Wege. Er war el» verschlossener,
finstrer Mensch, zeigte sich zu kameradschaftlichen Scherzen nie auf¬
gelegt, sang nie mit, wenn die Leute auf dem Marsche oder in den
Kasematlen ihre Lieder anstimmten, und ging in freien Stunden
immer seine eignen Wege.

Die Kameraden rannten sich heimlich zu, daß Rndegast Grund zu diesem
schenen, finstern Wesen hätte. Er stammte ans einem verrufnen Strnnddorfe, dessen
Bewohner größtenteils von scetriftigem Gute lebten und deshalb keine größere
Gnade vom Himmel zu erflehen wußten, als andauernde Nordweststürme. Je mehr
Kutter und Schoner, BriggS und Barken auf die gefährliche Sandbank vor dem
Nnschwicker Strande geworfen wurden, desto ergiebiger war ihre Ernte. Gewöhnlich
wurden die Schiffer der gescheiterten Fahrzeuge gerettet, aber was aus dem Wrack
nicht gleich von ihnen mitgenommen wurde, das fiel gewöhnlich in die Hände der
beutelustigen Strandbewohner, die heimlich in der nächsten Nacht dem Wrack einen
Besuch abzustatten pflegten, es ausplünderten und so zerstörten, daß man schwer
feststellen konnte, ob die Brandung oder Stranddiebe den Inhalt weggenommen
hätten.

Hin und wieder wurde auch wohl der eine oder der andre bei seiner un¬
berechtigten Bergnngsarbeit abgefaßt und bestraft, aber ebenso wenig wie die Leute
in Rnschwick das unbefugte Holzhvlen aus dem Walde für Diebstnhl hielten, ebenso
wenig erschien ihnen die Ausübung des alten freien Strandrechts als eine Sünde
oder gar als ein strafwürdiges Verbrechen.

Einmal aber hatten diese Strandgeier ihre Räuberei denn doch zu weit ge¬
trieben. Eine mit Getreide belndne schwedische Bark war in einer stürmischen
Nacht auf die Sandbank geraten und war nicht wieder flott zu machen, obgleich
der Kapitän die Mafien hatte tappen und einen Teil der Ladung über Bord
werfen lassen. Das Schiff faß fest, es war nicht mehr zu retten. So begab sich
denn der Kapitän, nachdem er einen Manu als Wächter auf der Park zurückgelassen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/659>, abgerufen am 04.05.2024.