Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Briefe eines Zurückgekehrten

geführt werden, hält Amtchkow nicht für stichhaltig. Der Lohndruck, den ein
gewanderte Arbeiter verursachte", gehe rasch vorüber. Ganz thöricht sei die
Furcht vor Übervölkerung, der Malthusianismus grundfalsch. Nicht ein furcht¬
bares Ringen von Milliarden uns Brot, sondern langsames Aussterben stehe
dem Menschengeschlecht bevor. Auf einem gewissen Grade der Bildung und
des Wohlstandes angelangt schlage jedes Volk den Weg des französischen ein,
schon ans dem Grunde, weil die verfeinerte Empfindung ehelichen Verkehr
ahne Liebe unmöglich mache; es falle heute keinem jungen Manne mehr ein,
auf Befehl des Familienoberhauptes sei" Geschlecht fortzupflanzen. Die
Statistik beweise, daß sich nicht bloß in Nordamerika, sondern auch schon in
England und in Dentschland die französische Tendenz bemerkbar mache. Die
Nationalitäten und die unabhängigen Nationalstaaten sollen erhalten bleiben,
weil ein unterschiedsloser Bölkerlirei die Individualitäten, damit die Kultur
vernichten und chinesische Erstarrung zur Folge bilden würde; er glaubt aber,
daß die Unabhängigkeit der Staaten durch die Aufhebung jeder Art von Grenz¬
sperre nicht bedroht werde. Das scheint doch einigermaßen zweifelhaft; Anitchkow
selbst meint, es werde den Bewohnern zweier Staaten ziemlich gleichgiltig sein,
wo die Grenze gehe, wenn sie sich nach Belieben hüben und drüben nieder¬
lassen könnten, und bei Grenzstreitigkeiten werde die Temperatur höchsteus noch
lauwarm, aber nicht mehr heiß werden. Das bedeutet doch Wohl, daß die
Grenze gar keine Grenze mehr sein würde, und daß die Staaten nur noch als
Verwaltungsbezirke der Weltrepublik fortbestchn würden. Das Endergebnis
von Auitrhkows llutersuchuug scheint also zu sein, daß es .Kriege geben wird,
so lange es noch selbständige Staaten giebt, und daß sie möglicherweise anf-
hüren würden, wenn die Menschheit dahin gelaugte, eine einzige große Handels¬
gesellschaft zu werden.




Briefe eines Zurückgekehrten
6

ach der Feier des Unabhängigkeitstages, der Nordamerikaner aus
den verschiedensten Städten Deutschlands um den Botschafter und
einige Konsuln der Bereinigten Staaten versammelt hatte, stand
die festlich gestimmte Gesellschaft in Gruppen beisammen, die leb¬
hafte, heitere Gespräche mit auffallender Mäßigung, fast gedämpft
flogen. Leises Sprechen und unscheinbares Bewegen, das jede Auffälligkeit
s"se zu absichtlich vermeidet, wird vou Jahr zu Jahr mehr der gute Ton in
der amerikanischen Gesellschaft. Ist das ein "frauenhafter" Zug? Oder ent¬
springt es dem Streben nach schärferer Betonung der Grenze gegen das auf


Briefe eines Zurückgekehrten

geführt werden, hält Amtchkow nicht für stichhaltig. Der Lohndruck, den ein
gewanderte Arbeiter verursachte», gehe rasch vorüber. Ganz thöricht sei die
Furcht vor Übervölkerung, der Malthusianismus grundfalsch. Nicht ein furcht¬
bares Ringen von Milliarden uns Brot, sondern langsames Aussterben stehe
dem Menschengeschlecht bevor. Auf einem gewissen Grade der Bildung und
des Wohlstandes angelangt schlage jedes Volk den Weg des französischen ein,
schon ans dem Grunde, weil die verfeinerte Empfindung ehelichen Verkehr
ahne Liebe unmöglich mache; es falle heute keinem jungen Manne mehr ein,
auf Befehl des Familienoberhauptes sei» Geschlecht fortzupflanzen. Die
Statistik beweise, daß sich nicht bloß in Nordamerika, sondern auch schon in
England und in Dentschland die französische Tendenz bemerkbar mache. Die
Nationalitäten und die unabhängigen Nationalstaaten sollen erhalten bleiben,
weil ein unterschiedsloser Bölkerlirei die Individualitäten, damit die Kultur
vernichten und chinesische Erstarrung zur Folge bilden würde; er glaubt aber,
daß die Unabhängigkeit der Staaten durch die Aufhebung jeder Art von Grenz¬
sperre nicht bedroht werde. Das scheint doch einigermaßen zweifelhaft; Anitchkow
selbst meint, es werde den Bewohnern zweier Staaten ziemlich gleichgiltig sein,
wo die Grenze gehe, wenn sie sich nach Belieben hüben und drüben nieder¬
lassen könnten, und bei Grenzstreitigkeiten werde die Temperatur höchsteus noch
lauwarm, aber nicht mehr heiß werden. Das bedeutet doch Wohl, daß die
Grenze gar keine Grenze mehr sein würde, und daß die Staaten nur noch als
Verwaltungsbezirke der Weltrepublik fortbestchn würden. Das Endergebnis
von Auitrhkows llutersuchuug scheint also zu sein, daß es .Kriege geben wird,
so lange es noch selbständige Staaten giebt, und daß sie möglicherweise anf-
hüren würden, wenn die Menschheit dahin gelaugte, eine einzige große Handels¬
gesellschaft zu werden.




Briefe eines Zurückgekehrten
6

ach der Feier des Unabhängigkeitstages, der Nordamerikaner aus
den verschiedensten Städten Deutschlands um den Botschafter und
einige Konsuln der Bereinigten Staaten versammelt hatte, stand
die festlich gestimmte Gesellschaft in Gruppen beisammen, die leb¬
hafte, heitere Gespräche mit auffallender Mäßigung, fast gedämpft
flogen. Leises Sprechen und unscheinbares Bewegen, das jede Auffälligkeit
s"se zu absichtlich vermeidet, wird vou Jahr zu Jahr mehr der gute Ton in
der amerikanischen Gesellschaft. Ist das ein „frauenhafter" Zug? Oder ent¬
springt es dem Streben nach schärferer Betonung der Grenze gegen das auf


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0607" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/234487"/>
          <fw type="header" place="top"> Briefe eines Zurückgekehrten</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1945" prev="#ID_1944"> geführt werden, hält Amtchkow nicht für stichhaltig. Der Lohndruck, den ein<lb/>
gewanderte Arbeiter verursachte», gehe rasch vorüber. Ganz thöricht sei die<lb/>
Furcht vor Übervölkerung, der Malthusianismus grundfalsch. Nicht ein furcht¬<lb/>
bares Ringen von Milliarden uns Brot, sondern langsames Aussterben stehe<lb/>
dem Menschengeschlecht bevor. Auf einem gewissen Grade der Bildung und<lb/>
des Wohlstandes angelangt schlage jedes Volk den Weg des französischen ein,<lb/>
schon ans dem Grunde, weil die verfeinerte Empfindung ehelichen Verkehr<lb/>
ahne Liebe unmöglich mache; es falle heute keinem jungen Manne mehr ein,<lb/>
auf Befehl des Familienoberhauptes sei» Geschlecht fortzupflanzen. Die<lb/>
Statistik beweise, daß sich nicht bloß in Nordamerika, sondern auch schon in<lb/>
England und in Dentschland die französische Tendenz bemerkbar mache. Die<lb/>
Nationalitäten und die unabhängigen Nationalstaaten sollen erhalten bleiben,<lb/>
weil ein unterschiedsloser Bölkerlirei die Individualitäten, damit die Kultur<lb/>
vernichten und chinesische Erstarrung zur Folge bilden würde; er glaubt aber,<lb/>
daß die Unabhängigkeit der Staaten durch die Aufhebung jeder Art von Grenz¬<lb/>
sperre nicht bedroht werde. Das scheint doch einigermaßen zweifelhaft; Anitchkow<lb/>
selbst meint, es werde den Bewohnern zweier Staaten ziemlich gleichgiltig sein,<lb/>
wo die Grenze gehe, wenn sie sich nach Belieben hüben und drüben nieder¬<lb/>
lassen könnten, und bei Grenzstreitigkeiten werde die Temperatur höchsteus noch<lb/>
lauwarm, aber nicht mehr heiß werden. Das bedeutet doch Wohl, daß die<lb/>
Grenze gar keine Grenze mehr sein würde, und daß die Staaten nur noch als<lb/>
Verwaltungsbezirke der Weltrepublik fortbestchn würden. Das Endergebnis<lb/>
von Auitrhkows llutersuchuug scheint also zu sein, daß es .Kriege geben wird,<lb/>
so lange es noch selbständige Staaten giebt, und daß sie möglicherweise anf-<lb/>
hüren würden, wenn die Menschheit dahin gelaugte, eine einzige große Handels¬<lb/>
gesellschaft zu werden.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Briefe eines Zurückgekehrten<lb/>
6 </head><lb/>
          <p xml:id="ID_1946" next="#ID_1947"> ach der Feier des Unabhängigkeitstages, der Nordamerikaner aus<lb/>
den verschiedensten Städten Deutschlands um den Botschafter und<lb/>
einige Konsuln der Bereinigten Staaten versammelt hatte, stand<lb/>
die festlich gestimmte Gesellschaft in Gruppen beisammen, die leb¬<lb/>
hafte, heitere Gespräche mit auffallender Mäßigung, fast gedämpft<lb/>
flogen. Leises Sprechen und unscheinbares Bewegen, das jede Auffälligkeit<lb/>
s"se zu absichtlich vermeidet, wird vou Jahr zu Jahr mehr der gute Ton in<lb/>
der amerikanischen Gesellschaft. Ist das ein &#x201E;frauenhafter" Zug? Oder ent¬<lb/>
springt es dem Streben nach schärferer Betonung der Grenze gegen das auf</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0607] Briefe eines Zurückgekehrten geführt werden, hält Amtchkow nicht für stichhaltig. Der Lohndruck, den ein gewanderte Arbeiter verursachte», gehe rasch vorüber. Ganz thöricht sei die Furcht vor Übervölkerung, der Malthusianismus grundfalsch. Nicht ein furcht¬ bares Ringen von Milliarden uns Brot, sondern langsames Aussterben stehe dem Menschengeschlecht bevor. Auf einem gewissen Grade der Bildung und des Wohlstandes angelangt schlage jedes Volk den Weg des französischen ein, schon ans dem Grunde, weil die verfeinerte Empfindung ehelichen Verkehr ahne Liebe unmöglich mache; es falle heute keinem jungen Manne mehr ein, auf Befehl des Familienoberhauptes sei» Geschlecht fortzupflanzen. Die Statistik beweise, daß sich nicht bloß in Nordamerika, sondern auch schon in England und in Dentschland die französische Tendenz bemerkbar mache. Die Nationalitäten und die unabhängigen Nationalstaaten sollen erhalten bleiben, weil ein unterschiedsloser Bölkerlirei die Individualitäten, damit die Kultur vernichten und chinesische Erstarrung zur Folge bilden würde; er glaubt aber, daß die Unabhängigkeit der Staaten durch die Aufhebung jeder Art von Grenz¬ sperre nicht bedroht werde. Das scheint doch einigermaßen zweifelhaft; Anitchkow selbst meint, es werde den Bewohnern zweier Staaten ziemlich gleichgiltig sein, wo die Grenze gehe, wenn sie sich nach Belieben hüben und drüben nieder¬ lassen könnten, und bei Grenzstreitigkeiten werde die Temperatur höchsteus noch lauwarm, aber nicht mehr heiß werden. Das bedeutet doch Wohl, daß die Grenze gar keine Grenze mehr sein würde, und daß die Staaten nur noch als Verwaltungsbezirke der Weltrepublik fortbestchn würden. Das Endergebnis von Auitrhkows llutersuchuug scheint also zu sein, daß es .Kriege geben wird, so lange es noch selbständige Staaten giebt, und daß sie möglicherweise anf- hüren würden, wenn die Menschheit dahin gelaugte, eine einzige große Handels¬ gesellschaft zu werden. Briefe eines Zurückgekehrten 6 ach der Feier des Unabhängigkeitstages, der Nordamerikaner aus den verschiedensten Städten Deutschlands um den Botschafter und einige Konsuln der Bereinigten Staaten versammelt hatte, stand die festlich gestimmte Gesellschaft in Gruppen beisammen, die leb¬ hafte, heitere Gespräche mit auffallender Mäßigung, fast gedämpft flogen. Leises Sprechen und unscheinbares Bewegen, das jede Auffälligkeit s"se zu absichtlich vermeidet, wird vou Jahr zu Jahr mehr der gute Ton in der amerikanischen Gesellschaft. Ist das ein „frauenhafter" Zug? Oder ent¬ springt es dem Streben nach schärferer Betonung der Grenze gegen das auf

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/607
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/607>, abgerufen am 02.05.2024.