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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Wachten sich Helene Voigt-Diederlichs zuerst vor vier Jahren
durch ihre Schleswig-holsteinischen Bauerngeschichten bekannt ge¬
macht hat, giebt sie uns heute einen Band Lhrit in wnnder-
hilbscher Ausstattung mit Buchschmuck von Cissarz (Leipzig,
Diederichs), dessen einzelne Seiten uus bald rauteuartigc Ein¬
fassungen zeigen, bald kleine Bilder oben oder unten, manchmal beides oder
auch nichts, je nachdem es dem Sinn der Verse angemessen schien. Die
Ornamente sind orange, die Bilder graugrün gedruckt, der kunstsinnige Ver¬
leger wollte hier zum erstenmale einem Buche "durch zusammenstimmende, ge-
brochne Farbentöne eine ihm eigne Seele geben," und daher haben sich unsre
Augen auch hellgrüne Buchstaben gefallen lassen müssen. Zwischen den Worten
des Titels "Unterstrom Gedichte" sehen wir ein ornamentiertes Zeichen, das ent¬
weder einen Punkt oder einen Bindestrich bedeuten könnte. In jenem Falle
hätten wir außer den Gedichten noch einen "Unterstrom" zu erwarten, etwas
größeres etwa als Hnuptstück der Sammlung, Da aber das Inhaltsverzeichnis
nur die Gedichte berücksichtigt, so haben wir uns nnter dem Ganzen "Unter¬
stromgedichte" vorzustellen. vielleicht weil sie tief gehn wie ein Unterstromboot,
wofür andre etwa Einsame Gedichte, Stille Lieder oder so etwas gesagt haben
würden. Oder ist es doch vielleicht anders gemeint, und hat das Gedicht
"Unterstrom" Seite litt ursprünglich an erster Stelle stehn sollen? Dort sucht
die Dichtern, den Geliebte", landeinwärts, obwohl sie weiß, daß er nicht da
ist, und da sieht sie auf einem Wasser ein Zweiglein der Schleuse zutreibe"
mit wunderlich verborgner Strömung Kraft lind muß sich nun als des Zweig-
leins Schwester fühlen und hinunterstarreu in die Nätselslnt, Auf dem bei¬
gegebnen Bilde aber finden wir statt des Zweiges einen Mann mit einem
Kahn, den eine Nixe in der Tiefe ein einem Faden vorwärts zieht, sodaß die
ganze Sache für uns noch rätselhafter wird. Wie dein nun auch sein mag, jene
frühern Erzählungen waren stark realistisch, munter, lebendig, ein wenig derb,,
der Dialog war zum Teil plattdeutsch, diese Gedichte hingegen sind ganz auf
Reflexion gestimmt, durchweg tief schwermütig, einige bis zur Verzweiflung
unglücklich, kaum eins von Herzen heiter. Da doch hinter jeder dichterischen
Äußerung die Fiktion einer Wirklichkeit steht, so fragt man: Konnte denn ein
einziges Menschenkind soviel trauriges erleben? Und sollte es wirklich ge¬
duldige, teilnehmende Zuhörer finden, Leute, denen das Mitseufzen eine Frende
ist, wie ja bekanntlich das Lachen anstecken soll? Nichts ist doch auf die
Dauer so einförmig und ungesellig wie fremde Trübsal. Zu dein müden Leid




Wachten sich Helene Voigt-Diederlichs zuerst vor vier Jahren
durch ihre Schleswig-holsteinischen Bauerngeschichten bekannt ge¬
macht hat, giebt sie uns heute einen Band Lhrit in wnnder-
hilbscher Ausstattung mit Buchschmuck von Cissarz (Leipzig,
Diederichs), dessen einzelne Seiten uus bald rauteuartigc Ein¬
fassungen zeigen, bald kleine Bilder oben oder unten, manchmal beides oder
auch nichts, je nachdem es dem Sinn der Verse angemessen schien. Die
Ornamente sind orange, die Bilder graugrün gedruckt, der kunstsinnige Ver¬
leger wollte hier zum erstenmale einem Buche „durch zusammenstimmende, ge-
brochne Farbentöne eine ihm eigne Seele geben," und daher haben sich unsre
Augen auch hellgrüne Buchstaben gefallen lassen müssen. Zwischen den Worten
des Titels „Unterstrom Gedichte" sehen wir ein ornamentiertes Zeichen, das ent¬
weder einen Punkt oder einen Bindestrich bedeuten könnte. In jenem Falle
hätten wir außer den Gedichten noch einen „Unterstrom" zu erwarten, etwas
größeres etwa als Hnuptstück der Sammlung, Da aber das Inhaltsverzeichnis
nur die Gedichte berücksichtigt, so haben wir uns nnter dem Ganzen „Unter¬
stromgedichte" vorzustellen. vielleicht weil sie tief gehn wie ein Unterstromboot,
wofür andre etwa Einsame Gedichte, Stille Lieder oder so etwas gesagt haben
würden. Oder ist es doch vielleicht anders gemeint, und hat das Gedicht
„Unterstrom" Seite litt ursprünglich an erster Stelle stehn sollen? Dort sucht
die Dichtern, den Geliebte», landeinwärts, obwohl sie weiß, daß er nicht da
ist, und da sieht sie auf einem Wasser ein Zweiglein der Schleuse zutreibe»
mit wunderlich verborgner Strömung Kraft lind muß sich nun als des Zweig-
leins Schwester fühlen und hinunterstarreu in die Nätselslnt, Auf dem bei¬
gegebnen Bilde aber finden wir statt des Zweiges einen Mann mit einem
Kahn, den eine Nixe in der Tiefe ein einem Faden vorwärts zieht, sodaß die
ganze Sache für uns noch rätselhafter wird. Wie dein nun auch sein mag, jene
frühern Erzählungen waren stark realistisch, munter, lebendig, ein wenig derb,,
der Dialog war zum Teil plattdeutsch, diese Gedichte hingegen sind ganz auf
Reflexion gestimmt, durchweg tief schwermütig, einige bis zur Verzweiflung
unglücklich, kaum eins von Herzen heiter. Da doch hinter jeder dichterischen
Äußerung die Fiktion einer Wirklichkeit steht, so fragt man: Konnte denn ein
einziges Menschenkind soviel trauriges erleben? Und sollte es wirklich ge¬
duldige, teilnehmende Zuhörer finden, Leute, denen das Mitseufzen eine Frende
ist, wie ja bekanntlich das Lachen anstecken soll? Nichts ist doch auf die
Dauer so einförmig und ungesellig wie fremde Trübsal. Zu dein müden Leid


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/186>, abgerufen am 27.04.2024.