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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Line Denkschrift des Ministers Witte
(Schluß)

euz besonders eifersüchtig verhielt sich die Regierung zu den Ver¬
suchen der Landschaften, irgend einen Einfluß auf die Gesetzgebung
zu gewinnen. Am häufigsten baten die Landschaften um solche
Änderungen der Gesetze, die eine allgemein landschaftliche oder
allgemein staatliche Bedeutung hatten. Viele davon verdienten
ernstliche Beachtung und widersprachen keineswegs der Grundidee des Gesetzes
von 1864. Alle solche Bitten wurden mit rein formeller Begründung ab¬
gewiesen. . . . Die Tendenz zum Mißtrauen und zur Einengung der Kompetenz
der Landschaften ging vom Zentrum aus zur Peripherie, nicht umgekehrt, wie
Goremhlin meinte, und schuf im Lande die "traurige Chronik von Wider¬
sprüchen und Widcrhandlungcn, an denen die Geschichte der Landschaften so
reich ist." War die Zentralgewalt mißtrauisch, so zeigten sich das Mißtrauen
und das Bestreben, die Landschaft der gouvernementalen Bevormundung zrl
unterwerfen, noch stärker in den Handlungen der einzelnen Gouverneure: sie
verletzten sehr oft die den Landschaften gesetzlich zustehenden Rechte. Und noch
weiter gingen in diesem Kampf die staatlichen Gewalten der Kreise: Bedrückung
der bäuerlichen Gemeinden bei der Wahl der Stinunhaber (stimmfähigen Glieder)
für die Landschaften; Strafen für die Wahl der Administration nicht genehmer
Personen, und sogar Zwangsmittel gegen die Stimmhaber selbst. "Hier,
sagt Witte, begegnen wir in der Geschichte der Landschaft ganz traurigen
Seiten."

Die Landschaft konnte natürlich nicht umhin, in allen diesen Handlungen
der zentralen und der örtlichen Gewalten eine systematische Beschränkung ihrer
Thätigkeit zu sehen. Sie mußte ebenso die Mängel und Unfcrtigkcitcn ihrer
Organisation erkennen und wandte sich deshalb in vielen Gesuchen an die
Regierung, die viel bittere Wahrheiten enthielten. Angesichts des Mißtrauens
der Regierung, der allseitigen Beengung, der Unmöglichkeit, die Entwürfe der
landschaftlichen Versammlungen in dem nötigen Maße zur Ausführung zu
bringen, erkalteten viele der besten Leute für die Sache der Landschaft, und
in den: Maße, als sie sich von der landschaftlichen Thätigkeit zurückzogen,
gingen die Wahlen mehr und mehr in die Hände einer besondern Klasse von
sich heraufarbeitenden Machern über, die auf das landschaftliche Budget als die




Line Denkschrift des Ministers Witte
(Schluß)

euz besonders eifersüchtig verhielt sich die Regierung zu den Ver¬
suchen der Landschaften, irgend einen Einfluß auf die Gesetzgebung
zu gewinnen. Am häufigsten baten die Landschaften um solche
Änderungen der Gesetze, die eine allgemein landschaftliche oder
allgemein staatliche Bedeutung hatten. Viele davon verdienten
ernstliche Beachtung und widersprachen keineswegs der Grundidee des Gesetzes
von 1864. Alle solche Bitten wurden mit rein formeller Begründung ab¬
gewiesen. . . . Die Tendenz zum Mißtrauen und zur Einengung der Kompetenz
der Landschaften ging vom Zentrum aus zur Peripherie, nicht umgekehrt, wie
Goremhlin meinte, und schuf im Lande die „traurige Chronik von Wider¬
sprüchen und Widcrhandlungcn, an denen die Geschichte der Landschaften so
reich ist." War die Zentralgewalt mißtrauisch, so zeigten sich das Mißtrauen
und das Bestreben, die Landschaft der gouvernementalen Bevormundung zrl
unterwerfen, noch stärker in den Handlungen der einzelnen Gouverneure: sie
verletzten sehr oft die den Landschaften gesetzlich zustehenden Rechte. Und noch
weiter gingen in diesem Kampf die staatlichen Gewalten der Kreise: Bedrückung
der bäuerlichen Gemeinden bei der Wahl der Stinunhaber (stimmfähigen Glieder)
für die Landschaften; Strafen für die Wahl der Administration nicht genehmer
Personen, und sogar Zwangsmittel gegen die Stimmhaber selbst. „Hier,
sagt Witte, begegnen wir in der Geschichte der Landschaft ganz traurigen
Seiten."

Die Landschaft konnte natürlich nicht umhin, in allen diesen Handlungen
der zentralen und der örtlichen Gewalten eine systematische Beschränkung ihrer
Thätigkeit zu sehen. Sie mußte ebenso die Mängel und Unfcrtigkcitcn ihrer
Organisation erkennen und wandte sich deshalb in vielen Gesuchen an die
Regierung, die viel bittere Wahrheiten enthielten. Angesichts des Mißtrauens
der Regierung, der allseitigen Beengung, der Unmöglichkeit, die Entwürfe der
landschaftlichen Versammlungen in dem nötigen Maße zur Ausführung zu
bringen, erkalteten viele der besten Leute für die Sache der Landschaft, und
in den: Maße, als sie sich von der landschaftlichen Thätigkeit zurückzogen,
gingen die Wahlen mehr und mehr in die Hände einer besondern Klasse von
sich heraufarbeitenden Machern über, die auf das landschaftliche Budget als die


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[0315] [Abbildung] Line Denkschrift des Ministers Witte (Schluß) euz besonders eifersüchtig verhielt sich die Regierung zu den Ver¬ suchen der Landschaften, irgend einen Einfluß auf die Gesetzgebung zu gewinnen. Am häufigsten baten die Landschaften um solche Änderungen der Gesetze, die eine allgemein landschaftliche oder allgemein staatliche Bedeutung hatten. Viele davon verdienten ernstliche Beachtung und widersprachen keineswegs der Grundidee des Gesetzes von 1864. Alle solche Bitten wurden mit rein formeller Begründung ab¬ gewiesen. . . . Die Tendenz zum Mißtrauen und zur Einengung der Kompetenz der Landschaften ging vom Zentrum aus zur Peripherie, nicht umgekehrt, wie Goremhlin meinte, und schuf im Lande die „traurige Chronik von Wider¬ sprüchen und Widcrhandlungcn, an denen die Geschichte der Landschaften so reich ist." War die Zentralgewalt mißtrauisch, so zeigten sich das Mißtrauen und das Bestreben, die Landschaft der gouvernementalen Bevormundung zrl unterwerfen, noch stärker in den Handlungen der einzelnen Gouverneure: sie verletzten sehr oft die den Landschaften gesetzlich zustehenden Rechte. Und noch weiter gingen in diesem Kampf die staatlichen Gewalten der Kreise: Bedrückung der bäuerlichen Gemeinden bei der Wahl der Stinunhaber (stimmfähigen Glieder) für die Landschaften; Strafen für die Wahl der Administration nicht genehmer Personen, und sogar Zwangsmittel gegen die Stimmhaber selbst. „Hier, sagt Witte, begegnen wir in der Geschichte der Landschaft ganz traurigen Seiten." Die Landschaft konnte natürlich nicht umhin, in allen diesen Handlungen der zentralen und der örtlichen Gewalten eine systematische Beschränkung ihrer Thätigkeit zu sehen. Sie mußte ebenso die Mängel und Unfcrtigkcitcn ihrer Organisation erkennen und wandte sich deshalb in vielen Gesuchen an die Regierung, die viel bittere Wahrheiten enthielten. Angesichts des Mißtrauens der Regierung, der allseitigen Beengung, der Unmöglichkeit, die Entwürfe der landschaftlichen Versammlungen in dem nötigen Maße zur Ausführung zu bringen, erkalteten viele der besten Leute für die Sache der Landschaft, und in den: Maße, als sie sich von der landschaftlichen Thätigkeit zurückzogen, gingen die Wahlen mehr und mehr in die Hände einer besondern Klasse von sich heraufarbeitenden Machern über, die auf das landschaftliche Budget als die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/315>, abgerufen am 28.04.2024.