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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Die Stellung des Verteidigers im Strafverfahren

Es wäre sehr gut, wenn sich die Herren Boden- und Wvhnnngsreformer
recht ernstlich gesagt sein ließen, was der Oberbürgermeister Zweigert in Essen
in seinem Gutachten über die Beaufsichtigung der vorhandnen Wohnungen*)
in dieser Beziehung schreibt. Daß es nämlich grundfalsch sei, den Mieter ganz
allgemein als den wirtschaftlich schwächern Teil zu bezeichnen. Es gebe ebenso
"ausbeutende" Mieter wie "ausbeutende" Hausbesitzer, und die Stadtngrarier
-- wie wir sie nennen -- seien durch Übcrschuldung ebenso vielfach in argen
Nöten wie die Landagrarier, wenn auch Herr v. Miguel das bestreite. Also
nochmals: die Hausbesitzer haben Recht, wenn sie sich gegen bodenreformerische
Übertreibungen und Phantastereien wehren, vollends wenn nun gar auch der
Staat nach den sozialdoktrinärcn Rezepten die Großstadtgemeinden zu "Experi¬
menten," über deren Konsequenzen man sich noch gar nicht klar ist, zwingen will.

(Schluß folgt)




Die Stellung des Verteidigers im Strafverfahren

!in 23. März hat der Geheime Justizrat Professor I)r. von Liszt
im Berliner Anwaltsverein einen Vortrag über die Stellung des
Verteidigers im Strafverfahren gehalten. Die darin gemachten,
!anch für Laienkreise wichtigen und interessanten Ausführungen
I dürfen jedoch bei aller Hochachtung vor der Stellung und der
Bedeutung Liszts nicht ganz unwidersprochen bleiben. Liszt stellt nämlich
mit aller Bestimmtheit den bedenklichen Satz auf, der Verteidiger dürfe, auch
wenn er vou der Schuld des Angeklagten überzeugt sei, auf dessen Freisprechung
plädieren. Er leitet dieses Recht des Verteidigers aus der Stellung her, die
ihm der moderne Strafprozeß als Parteivertreter anweist. Er sagt, das
Strafverfahren, das an sich keine vor dem Richter um das Recht kämpfende
Parteien, sondern nur den Richter und den Angeklagten kenne, sei durch die
moderne Gesetzgebung künstlich zu einem Parteiprozcß umgewandelt worden.
Jetzt stünden sich der Staatsanwalt und der Angeklagte mit seinem Verteidiger
als Parteien gegenüber, und das Ziel des Verfahrens werde am besten erreicht,
wenn beide Parteien ihren Partcistandpnnkt nach Möglichkeit wahrten.

Liszt verkennt nicht, daß dieses Ziel die Ermittlung der Wahrheit ist,
und daß der künstliche Bau des Strafverfahrens nur gewählt worden ist, um
dieses Ziel besser zu erreichen. Er verkennt auch nicht, daß der Verteidiger
durch das Gesetz und nicht durch den Willen des Angeklagten zur Mitwirkung
im Verfahren berufen ist, daß er also, wie jedes andre mitwirkende Organ,



''") Band l, 2. Abteilung, S. 53 und S4.
Die Stellung des Verteidigers im Strafverfahren

Es wäre sehr gut, wenn sich die Herren Boden- und Wvhnnngsreformer
recht ernstlich gesagt sein ließen, was der Oberbürgermeister Zweigert in Essen
in seinem Gutachten über die Beaufsichtigung der vorhandnen Wohnungen*)
in dieser Beziehung schreibt. Daß es nämlich grundfalsch sei, den Mieter ganz
allgemein als den wirtschaftlich schwächern Teil zu bezeichnen. Es gebe ebenso
„ausbeutende" Mieter wie „ausbeutende" Hausbesitzer, und die Stadtngrarier
— wie wir sie nennen — seien durch Übcrschuldung ebenso vielfach in argen
Nöten wie die Landagrarier, wenn auch Herr v. Miguel das bestreite. Also
nochmals: die Hausbesitzer haben Recht, wenn sie sich gegen bodenreformerische
Übertreibungen und Phantastereien wehren, vollends wenn nun gar auch der
Staat nach den sozialdoktrinärcn Rezepten die Großstadtgemeinden zu „Experi¬
menten," über deren Konsequenzen man sich noch gar nicht klar ist, zwingen will.

(Schluß folgt)




Die Stellung des Verteidigers im Strafverfahren

!in 23. März hat der Geheime Justizrat Professor I)r. von Liszt
im Berliner Anwaltsverein einen Vortrag über die Stellung des
Verteidigers im Strafverfahren gehalten. Die darin gemachten,
!anch für Laienkreise wichtigen und interessanten Ausführungen
I dürfen jedoch bei aller Hochachtung vor der Stellung und der
Bedeutung Liszts nicht ganz unwidersprochen bleiben. Liszt stellt nämlich
mit aller Bestimmtheit den bedenklichen Satz auf, der Verteidiger dürfe, auch
wenn er vou der Schuld des Angeklagten überzeugt sei, auf dessen Freisprechung
plädieren. Er leitet dieses Recht des Verteidigers aus der Stellung her, die
ihm der moderne Strafprozeß als Parteivertreter anweist. Er sagt, das
Strafverfahren, das an sich keine vor dem Richter um das Recht kämpfende
Parteien, sondern nur den Richter und den Angeklagten kenne, sei durch die
moderne Gesetzgebung künstlich zu einem Parteiprozcß umgewandelt worden.
Jetzt stünden sich der Staatsanwalt und der Angeklagte mit seinem Verteidiger
als Parteien gegenüber, und das Ziel des Verfahrens werde am besten erreicht,
wenn beide Parteien ihren Partcistandpnnkt nach Möglichkeit wahrten.

Liszt verkennt nicht, daß dieses Ziel die Ermittlung der Wahrheit ist,
und daß der künstliche Bau des Strafverfahrens nur gewählt worden ist, um
dieses Ziel besser zu erreichen. Er verkennt auch nicht, daß der Verteidiger
durch das Gesetz und nicht durch den Willen des Angeklagten zur Mitwirkung
im Verfahren berufen ist, daß er also, wie jedes andre mitwirkende Organ,



''") Band l, 2. Abteilung, S. 53 und S4.
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[0462] Die Stellung des Verteidigers im Strafverfahren Es wäre sehr gut, wenn sich die Herren Boden- und Wvhnnngsreformer recht ernstlich gesagt sein ließen, was der Oberbürgermeister Zweigert in Essen in seinem Gutachten über die Beaufsichtigung der vorhandnen Wohnungen*) in dieser Beziehung schreibt. Daß es nämlich grundfalsch sei, den Mieter ganz allgemein als den wirtschaftlich schwächern Teil zu bezeichnen. Es gebe ebenso „ausbeutende" Mieter wie „ausbeutende" Hausbesitzer, und die Stadtngrarier — wie wir sie nennen — seien durch Übcrschuldung ebenso vielfach in argen Nöten wie die Landagrarier, wenn auch Herr v. Miguel das bestreite. Also nochmals: die Hausbesitzer haben Recht, wenn sie sich gegen bodenreformerische Übertreibungen und Phantastereien wehren, vollends wenn nun gar auch der Staat nach den sozialdoktrinärcn Rezepten die Großstadtgemeinden zu „Experi¬ menten," über deren Konsequenzen man sich noch gar nicht klar ist, zwingen will. (Schluß folgt) Die Stellung des Verteidigers im Strafverfahren !in 23. März hat der Geheime Justizrat Professor I)r. von Liszt im Berliner Anwaltsverein einen Vortrag über die Stellung des Verteidigers im Strafverfahren gehalten. Die darin gemachten, !anch für Laienkreise wichtigen und interessanten Ausführungen I dürfen jedoch bei aller Hochachtung vor der Stellung und der Bedeutung Liszts nicht ganz unwidersprochen bleiben. Liszt stellt nämlich mit aller Bestimmtheit den bedenklichen Satz auf, der Verteidiger dürfe, auch wenn er vou der Schuld des Angeklagten überzeugt sei, auf dessen Freisprechung plädieren. Er leitet dieses Recht des Verteidigers aus der Stellung her, die ihm der moderne Strafprozeß als Parteivertreter anweist. Er sagt, das Strafverfahren, das an sich keine vor dem Richter um das Recht kämpfende Parteien, sondern nur den Richter und den Angeklagten kenne, sei durch die moderne Gesetzgebung künstlich zu einem Parteiprozcß umgewandelt worden. Jetzt stünden sich der Staatsanwalt und der Angeklagte mit seinem Verteidiger als Parteien gegenüber, und das Ziel des Verfahrens werde am besten erreicht, wenn beide Parteien ihren Partcistandpnnkt nach Möglichkeit wahrten. Liszt verkennt nicht, daß dieses Ziel die Ermittlung der Wahrheit ist, und daß der künstliche Bau des Strafverfahrens nur gewählt worden ist, um dieses Ziel besser zu erreichen. Er verkennt auch nicht, daß der Verteidiger durch das Gesetz und nicht durch den Willen des Angeklagten zur Mitwirkung im Verfahren berufen ist, daß er also, wie jedes andre mitwirkende Organ, ''") Band l, 2. Abteilung, S. 53 und S4.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/462>, abgerufen am 27.04.2024.