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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Ungarische Wahlen

as Ideal einer Volksvertretung ist Wohl weder in ihrer Zu¬
sammensetzung noch in ihrem Zustandekommen in irgend einem
Lande oder zu irgeud einer Zeit auch nur annähernd erreicht
worden, wie much die Wahlart beschaffen gewesen fein mag. Zu
allen Zeiten waren Herrscher und Regierungen bestrebt, fügsame
Parlamente zu bekommen, und zeigten fich auch in der Wahl der zu diesem
Ziel führenden Mittel meist nicht sehr wählerisch. Sogar im Musterkarte des
Parlamentarismus, in England, waren bis zu der von Gladstone durch-
geführten Wahlreform, die vielleicht sein unvergänglichster Ruhmestitel ist, arge
Wahlmißbränche im Schwange, und es läßt sich nicht leugnen, daß auch in
nichts weniger als einwandfreier Weise geschaffne Parlamente vollkommen auf
der Höhe ihres Berufs gestanden haben.

So hat auch das ungarische Abgeordnetenhaus noch aus der Zeit des
Vormärz deu Ruf großer politischer Bedeutuug bewahrt, als bloß der Adel
die politische Nation bildete und Wahlrechte hatte, als Graf Stefan Szecheuhi
und Ludwig Kossuth das Panier von Freiheit und Fortschritt in der Kultur
und in der Wirtschaft vorantrugen, und als Franz Deal so vornehm dachte,
daß er ein Mandat des Zalaer Komitats zurückwies, weil es mit Wählerblut
befleckt war. Die Kämpfe in den Jahren 1861, 1865 und 1867 um die
Wiederherstellung der Verfassung und der staatlichen Selbständigkeit unter der
Führung von Männern wie Franz Denk, Baron Josef Eötvös, Graf Julius
Andrassy zeigten das auf Grund des 1848 er Gesetzes von allen .Klasse" der
Bevölkerung gewählte Abgeordnetenhaus auf europäischer Hohe, und die großen
gesetzgeberischen Arbeiten in den ersten fünf Jahren nach dem Ausgleich von
1867, durch die Ungarn in die Reihe der modernen Staaten erhoben werden
sollte, hatten zur Folge, daß der ungarische Parlamentarismus in Hellem Glanz
erstrahlte.

Aber schon der im Jahre 1872 eingereichte, jedoch durch die Obstruktion der
Oppositionsparteien zu Fall gebrachte Wahlgesetzeutwurf zeigte das Bestreben,


Grenzbot", l>! 1901 <>I


Ungarische Wahlen

as Ideal einer Volksvertretung ist Wohl weder in ihrer Zu¬
sammensetzung noch in ihrem Zustandekommen in irgend einem
Lande oder zu irgeud einer Zeit auch nur annähernd erreicht
worden, wie much die Wahlart beschaffen gewesen fein mag. Zu
allen Zeiten waren Herrscher und Regierungen bestrebt, fügsame
Parlamente zu bekommen, und zeigten fich auch in der Wahl der zu diesem
Ziel führenden Mittel meist nicht sehr wählerisch. Sogar im Musterkarte des
Parlamentarismus, in England, waren bis zu der von Gladstone durch-
geführten Wahlreform, die vielleicht sein unvergänglichster Ruhmestitel ist, arge
Wahlmißbränche im Schwange, und es läßt sich nicht leugnen, daß auch in
nichts weniger als einwandfreier Weise geschaffne Parlamente vollkommen auf
der Höhe ihres Berufs gestanden haben.

So hat auch das ungarische Abgeordnetenhaus noch aus der Zeit des
Vormärz deu Ruf großer politischer Bedeutuug bewahrt, als bloß der Adel
die politische Nation bildete und Wahlrechte hatte, als Graf Stefan Szecheuhi
und Ludwig Kossuth das Panier von Freiheit und Fortschritt in der Kultur
und in der Wirtschaft vorantrugen, und als Franz Deal so vornehm dachte,
daß er ein Mandat des Zalaer Komitats zurückwies, weil es mit Wählerblut
befleckt war. Die Kämpfe in den Jahren 1861, 1865 und 1867 um die
Wiederherstellung der Verfassung und der staatlichen Selbständigkeit unter der
Führung von Männern wie Franz Denk, Baron Josef Eötvös, Graf Julius
Andrassy zeigten das auf Grund des 1848 er Gesetzes von allen .Klasse» der
Bevölkerung gewählte Abgeordnetenhaus auf europäischer Hohe, und die großen
gesetzgeberischen Arbeiten in den ersten fünf Jahren nach dem Ausgleich von
1867, durch die Ungarn in die Reihe der modernen Staaten erhoben werden
sollte, hatten zur Folge, daß der ungarische Parlamentarismus in Hellem Glanz
erstrahlte.

Aber schon der im Jahre 1872 eingereichte, jedoch durch die Obstruktion der
Oppositionsparteien zu Fall gebrachte Wahlgesetzeutwurf zeigte das Bestreben,


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[0489] [Abbildung] Ungarische Wahlen as Ideal einer Volksvertretung ist Wohl weder in ihrer Zu¬ sammensetzung noch in ihrem Zustandekommen in irgend einem Lande oder zu irgeud einer Zeit auch nur annähernd erreicht worden, wie much die Wahlart beschaffen gewesen fein mag. Zu allen Zeiten waren Herrscher und Regierungen bestrebt, fügsame Parlamente zu bekommen, und zeigten fich auch in der Wahl der zu diesem Ziel führenden Mittel meist nicht sehr wählerisch. Sogar im Musterkarte des Parlamentarismus, in England, waren bis zu der von Gladstone durch- geführten Wahlreform, die vielleicht sein unvergänglichster Ruhmestitel ist, arge Wahlmißbränche im Schwange, und es läßt sich nicht leugnen, daß auch in nichts weniger als einwandfreier Weise geschaffne Parlamente vollkommen auf der Höhe ihres Berufs gestanden haben. So hat auch das ungarische Abgeordnetenhaus noch aus der Zeit des Vormärz deu Ruf großer politischer Bedeutuug bewahrt, als bloß der Adel die politische Nation bildete und Wahlrechte hatte, als Graf Stefan Szecheuhi und Ludwig Kossuth das Panier von Freiheit und Fortschritt in der Kultur und in der Wirtschaft vorantrugen, und als Franz Deal so vornehm dachte, daß er ein Mandat des Zalaer Komitats zurückwies, weil es mit Wählerblut befleckt war. Die Kämpfe in den Jahren 1861, 1865 und 1867 um die Wiederherstellung der Verfassung und der staatlichen Selbständigkeit unter der Führung von Männern wie Franz Denk, Baron Josef Eötvös, Graf Julius Andrassy zeigten das auf Grund des 1848 er Gesetzes von allen .Klasse» der Bevölkerung gewählte Abgeordnetenhaus auf europäischer Hohe, und die großen gesetzgeberischen Arbeiten in den ersten fünf Jahren nach dem Ausgleich von 1867, durch die Ungarn in die Reihe der modernen Staaten erhoben werden sollte, hatten zur Folge, daß der ungarische Parlamentarismus in Hellem Glanz erstrahlte. Aber schon der im Jahre 1872 eingereichte, jedoch durch die Obstruktion der Oppositionsparteien zu Fall gebrachte Wahlgesetzeutwurf zeigte das Bestreben, Grenzbot«, l>! 1901 <>I

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/489>, abgerufen am 27.04.2024.