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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Bizerta

die Stimme des Gewissens als göttlich bezeugte und immer aufs neue geweckte
Bedürfnis hat, seine Erkenntnisse nicht nur untereinander, sondern auch mit
seinem Handeln in Einklang zu bringen, die Aufgabe, mit der Erkenntnis
seiner Abhängigkeit von Gott auch wirklich Ernst zu machen, dadurch aber
-- und das ist ZieglerS dritter Grnudgednnke --- gerät er in denselben Kon¬
flikt zwischen Eigenwillen und theoretisch anerkannter Pflicht, der zu der Zeit,
als der Heiland erschien, die charakteristische Eigentümlichkeit der jüdischen
Religiosität war.

Die für alle Zeiten und alle Menschen giltige Lösung dieses Konflikts
hat nun nach Ziegler Jesus von Nazareth dadurch herbeigeführt, daß in ihm
zum erstenmale "das unbedingteste Ernstmachen mit der Ergebung des Menschen
in die Thatsache der Allmacht des einen Gottes, vor dem jede Spur von
menschlichem Eigenwillen verschwindet," "zum Siege über allen menschlichen
Wahn von Gott, über allen menschlichen Selbstbetrug" gelangt ist (S. 69). Er
hat diese "entscheidende That" vollbracht nicht als ein Mensch, "der Gott war,
und in dessen menschliche Gestalt sich Gott zeitweise gekleidet hat" ("das ist
-- sagt Ziegler jS, 51s --- ein grelllicher, heidnischer, abgöttischer Gedanke"),
auch nicht als "ein Gattungsmensch, der alle menschlichen Gestaltungen der
Menschen in sich vereinigte," "wie man gefaselt hat," sondern als "ein Jsraelit
durch und durch, ein Mensch von Fleisch und Blut, der mit beiden Füßen auf
dem Boden der Wirklichkeit stand, der mit klarern, nüchternem Blick in die
wirklichen Verhältnisse der Dinge, in die Lage und in die Herzen der Menschen,
vor allem auch in die eigne Lage und das eigne Herz blickte" (S, 53).

(Schluß folgt)




Vizerta
Karl Gußmann von

>is ich im vorigen Jahr auf einem der vortrefflichen Dampfer
der deutschen Lcvantelinie an der weithingestreckten .Küste Nord-
nfrikas entlang fuhr, die fast täglich in Sicht blieb, zeigte mir
der erste Schiffsoffizier, mit dem ich im Gespräch auf der Brücke
! stand, an dem in blauer Ferne verschwimmenden Lnndzug eine
Stelle: "Dort liegt Bizerta!" "Bizerta? sagte ich, ist das nicht dasselbe
wie Benzert? Ich habe daheim in meiner Bücherei einen prächtigen Band
dieses Titels." Der Offizier bezweifelte die Möglichkeit: Bizerta oder Benzert,
von den Franzosen ängstlich gehütet als das Geheimnis aller Geheimnisse, als
das künftige oder schon gegenwärtige strategische Juwel des Mittelmeers - und


Bizerta

die Stimme des Gewissens als göttlich bezeugte und immer aufs neue geweckte
Bedürfnis hat, seine Erkenntnisse nicht nur untereinander, sondern auch mit
seinem Handeln in Einklang zu bringen, die Aufgabe, mit der Erkenntnis
seiner Abhängigkeit von Gott auch wirklich Ernst zu machen, dadurch aber
— und das ist ZieglerS dritter Grnudgednnke —- gerät er in denselben Kon¬
flikt zwischen Eigenwillen und theoretisch anerkannter Pflicht, der zu der Zeit,
als der Heiland erschien, die charakteristische Eigentümlichkeit der jüdischen
Religiosität war.

Die für alle Zeiten und alle Menschen giltige Lösung dieses Konflikts
hat nun nach Ziegler Jesus von Nazareth dadurch herbeigeführt, daß in ihm
zum erstenmale „das unbedingteste Ernstmachen mit der Ergebung des Menschen
in die Thatsache der Allmacht des einen Gottes, vor dem jede Spur von
menschlichem Eigenwillen verschwindet," „zum Siege über allen menschlichen
Wahn von Gott, über allen menschlichen Selbstbetrug" gelangt ist (S. 69). Er
hat diese „entscheidende That" vollbracht nicht als ein Mensch, „der Gott war,
und in dessen menschliche Gestalt sich Gott zeitweise gekleidet hat" („das ist
— sagt Ziegler jS, 51s —- ein grelllicher, heidnischer, abgöttischer Gedanke"),
auch nicht als „ein Gattungsmensch, der alle menschlichen Gestaltungen der
Menschen in sich vereinigte," „wie man gefaselt hat," sondern als „ein Jsraelit
durch und durch, ein Mensch von Fleisch und Blut, der mit beiden Füßen auf
dem Boden der Wirklichkeit stand, der mit klarern, nüchternem Blick in die
wirklichen Verhältnisse der Dinge, in die Lage und in die Herzen der Menschen,
vor allem auch in die eigne Lage und das eigne Herz blickte" (S, 53).

(Schluß folgt)




Vizerta
Karl Gußmann von

>is ich im vorigen Jahr auf einem der vortrefflichen Dampfer
der deutschen Lcvantelinie an der weithingestreckten .Küste Nord-
nfrikas entlang fuhr, die fast täglich in Sicht blieb, zeigte mir
der erste Schiffsoffizier, mit dem ich im Gespräch auf der Brücke
! stand, an dem in blauer Ferne verschwimmenden Lnndzug eine
Stelle: „Dort liegt Bizerta!" „Bizerta? sagte ich, ist das nicht dasselbe
wie Benzert? Ich habe daheim in meiner Bücherei einen prächtigen Band
dieses Titels." Der Offizier bezweifelte die Möglichkeit: Bizerta oder Benzert,
von den Franzosen ängstlich gehütet als das Geheimnis aller Geheimnisse, als
das künftige oder schon gegenwärtige strategische Juwel des Mittelmeers - und


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[0514] Bizerta die Stimme des Gewissens als göttlich bezeugte und immer aufs neue geweckte Bedürfnis hat, seine Erkenntnisse nicht nur untereinander, sondern auch mit seinem Handeln in Einklang zu bringen, die Aufgabe, mit der Erkenntnis seiner Abhängigkeit von Gott auch wirklich Ernst zu machen, dadurch aber — und das ist ZieglerS dritter Grnudgednnke —- gerät er in denselben Kon¬ flikt zwischen Eigenwillen und theoretisch anerkannter Pflicht, der zu der Zeit, als der Heiland erschien, die charakteristische Eigentümlichkeit der jüdischen Religiosität war. Die für alle Zeiten und alle Menschen giltige Lösung dieses Konflikts hat nun nach Ziegler Jesus von Nazareth dadurch herbeigeführt, daß in ihm zum erstenmale „das unbedingteste Ernstmachen mit der Ergebung des Menschen in die Thatsache der Allmacht des einen Gottes, vor dem jede Spur von menschlichem Eigenwillen verschwindet," „zum Siege über allen menschlichen Wahn von Gott, über allen menschlichen Selbstbetrug" gelangt ist (S. 69). Er hat diese „entscheidende That" vollbracht nicht als ein Mensch, „der Gott war, und in dessen menschliche Gestalt sich Gott zeitweise gekleidet hat" („das ist — sagt Ziegler jS, 51s —- ein grelllicher, heidnischer, abgöttischer Gedanke"), auch nicht als „ein Gattungsmensch, der alle menschlichen Gestaltungen der Menschen in sich vereinigte," „wie man gefaselt hat," sondern als „ein Jsraelit durch und durch, ein Mensch von Fleisch und Blut, der mit beiden Füßen auf dem Boden der Wirklichkeit stand, der mit klarern, nüchternem Blick in die wirklichen Verhältnisse der Dinge, in die Lage und in die Herzen der Menschen, vor allem auch in die eigne Lage und das eigne Herz blickte" (S, 53). (Schluß folgt) Vizerta Karl Gußmann von >is ich im vorigen Jahr auf einem der vortrefflichen Dampfer der deutschen Lcvantelinie an der weithingestreckten .Küste Nord- nfrikas entlang fuhr, die fast täglich in Sicht blieb, zeigte mir der erste Schiffsoffizier, mit dem ich im Gespräch auf der Brücke ! stand, an dem in blauer Ferne verschwimmenden Lnndzug eine Stelle: „Dort liegt Bizerta!" „Bizerta? sagte ich, ist das nicht dasselbe wie Benzert? Ich habe daheim in meiner Bücherei einen prächtigen Band dieses Titels." Der Offizier bezweifelte die Möglichkeit: Bizerta oder Benzert, von den Franzosen ängstlich gehütet als das Geheimnis aller Geheimnisse, als das künftige oder schon gegenwärtige strategische Juwel des Mittelmeers - und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/514>, abgerufen am 27.04.2024.