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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Gine neue Glaubenslehre
v Carl Witling on(Schluß)

!it liebevoller Sorgfalt stellt Ziegler dann ans den synoptischen
Evangelien eine Reihe von Zügen zusammen, die nach seiner
Meinung offenbar besonders geeignet sind, den Heiland den
modernen Menschen mit ihrem hauptsächlich ans Erkenntnis und
I Beherrschung der Außenwelt gerichteten Streben menschlich nahe
zu bringen. "Er kennt, sagt er (S. 53), nicht nur die Vogel des Himmels
und ihren Preis unter den Menschen, die Füchse i" ihren Löchern und die
Wölfe als Feinde der Schafe, die Gräser und Lilien des Feldes mit ihrem
kostbaren Schmuck, den Menschenkunst nie erreiche" kann. Er hat auch den
Ackersmann bei seiner Arbeit des Pslügens, Säens, Erntens, die Fischer beim
Auswerfen und Einziehn der Netze, die Hirten, die hingebend jedem Verlornen
Schaf nachgehn, den Kaufmann mit seinem für den höchsten Preis der Perlen
geschulten Auge beobachtet. Ihm ist die Bedeutung des Salzes für die Be¬
reitung und Bewahrung der Speisen, des Sauerteigs für jede Bereitung von
genießbarer Backware, des hoch ans den Leuchter gestellten Lichts im Hanse
Wohl bekannt. Jesus steht mitten im wirklichen Leben, als Hnndwcrkersohn
und selber als Handwerker, als Sohn seines Volks, das er liebt mit dem
seligen Bewußtsein, ihm selber ganz anzugehören. Mit den höchsten Geistern
in Israel preist er Gott dafür, daß er in Jerusalem die Stadt des große"
Königs, im Tempel das Heiligtum seiner Anbetung, in dem Volke selbst das
Salz der Erde, das Licht der Welt, den Träger der höchsten Aufgabe für alle
Menschen habe, selbst diesem Volke mit Leib und Leben angehöre und für die
Erfüllung seiner Aufgabe ganz und gar bestimmt sei."

Die volle Konsequenz dieser Auffassung von Jesu würde erfordern, daß
der Heiland auch -- abgesehen natürlich von den Punkten, wo das Gegenteil
ansdrücklich bezeugt wird -- durchaus die Weltanschauung seiner Zeit geteilt
und deshalb auch Vorstellungen gehegt habe, die dem modernen Menschen als
falsch erscheinen müssen. Ob Ziegler diese Konsequenz in vollem Umfange ge¬
zogen hat, ist nicht ganz klar, da er sich nicht darüber ausspricht, ob nach
seiner Meinung Jesus die "damalige Zeitvorstellung" (S. 72) von der Existenz
böser Geister und ihres Obersten Beelzebub bloß unwidersprochen gelassen oder
auch selbst geteilt hat; doch ist er wenigstens insofern völlig konsequent, als
er die auf der alttestamentlichen Offenbarung beruhende Gottesvorstellung des




Gine neue Glaubenslehre
v Carl Witling on(Schluß)

!it liebevoller Sorgfalt stellt Ziegler dann ans den synoptischen
Evangelien eine Reihe von Zügen zusammen, die nach seiner
Meinung offenbar besonders geeignet sind, den Heiland den
modernen Menschen mit ihrem hauptsächlich ans Erkenntnis und
I Beherrschung der Außenwelt gerichteten Streben menschlich nahe
zu bringen. „Er kennt, sagt er (S. 53), nicht nur die Vogel des Himmels
und ihren Preis unter den Menschen, die Füchse i» ihren Löchern und die
Wölfe als Feinde der Schafe, die Gräser und Lilien des Feldes mit ihrem
kostbaren Schmuck, den Menschenkunst nie erreiche« kann. Er hat auch den
Ackersmann bei seiner Arbeit des Pslügens, Säens, Erntens, die Fischer beim
Auswerfen und Einziehn der Netze, die Hirten, die hingebend jedem Verlornen
Schaf nachgehn, den Kaufmann mit seinem für den höchsten Preis der Perlen
geschulten Auge beobachtet. Ihm ist die Bedeutung des Salzes für die Be¬
reitung und Bewahrung der Speisen, des Sauerteigs für jede Bereitung von
genießbarer Backware, des hoch ans den Leuchter gestellten Lichts im Hanse
Wohl bekannt. Jesus steht mitten im wirklichen Leben, als Hnndwcrkersohn
und selber als Handwerker, als Sohn seines Volks, das er liebt mit dem
seligen Bewußtsein, ihm selber ganz anzugehören. Mit den höchsten Geistern
in Israel preist er Gott dafür, daß er in Jerusalem die Stadt des große»
Königs, im Tempel das Heiligtum seiner Anbetung, in dem Volke selbst das
Salz der Erde, das Licht der Welt, den Träger der höchsten Aufgabe für alle
Menschen habe, selbst diesem Volke mit Leib und Leben angehöre und für die
Erfüllung seiner Aufgabe ganz und gar bestimmt sei."

Die volle Konsequenz dieser Auffassung von Jesu würde erfordern, daß
der Heiland auch — abgesehen natürlich von den Punkten, wo das Gegenteil
ansdrücklich bezeugt wird — durchaus die Weltanschauung seiner Zeit geteilt
und deshalb auch Vorstellungen gehegt habe, die dem modernen Menschen als
falsch erscheinen müssen. Ob Ziegler diese Konsequenz in vollem Umfange ge¬
zogen hat, ist nicht ganz klar, da er sich nicht darüber ausspricht, ob nach
seiner Meinung Jesus die „damalige Zeitvorstellung" (S. 72) von der Existenz
böser Geister und ihres Obersten Beelzebub bloß unwidersprochen gelassen oder
auch selbst geteilt hat; doch ist er wenigstens insofern völlig konsequent, als
er die auf der alttestamentlichen Offenbarung beruhende Gottesvorstellung des


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[0563] [Abbildung] Gine neue Glaubenslehre v Carl Witling on(Schluß) !it liebevoller Sorgfalt stellt Ziegler dann ans den synoptischen Evangelien eine Reihe von Zügen zusammen, die nach seiner Meinung offenbar besonders geeignet sind, den Heiland den modernen Menschen mit ihrem hauptsächlich ans Erkenntnis und I Beherrschung der Außenwelt gerichteten Streben menschlich nahe zu bringen. „Er kennt, sagt er (S. 53), nicht nur die Vogel des Himmels und ihren Preis unter den Menschen, die Füchse i» ihren Löchern und die Wölfe als Feinde der Schafe, die Gräser und Lilien des Feldes mit ihrem kostbaren Schmuck, den Menschenkunst nie erreiche« kann. Er hat auch den Ackersmann bei seiner Arbeit des Pslügens, Säens, Erntens, die Fischer beim Auswerfen und Einziehn der Netze, die Hirten, die hingebend jedem Verlornen Schaf nachgehn, den Kaufmann mit seinem für den höchsten Preis der Perlen geschulten Auge beobachtet. Ihm ist die Bedeutung des Salzes für die Be¬ reitung und Bewahrung der Speisen, des Sauerteigs für jede Bereitung von genießbarer Backware, des hoch ans den Leuchter gestellten Lichts im Hanse Wohl bekannt. Jesus steht mitten im wirklichen Leben, als Hnndwcrkersohn und selber als Handwerker, als Sohn seines Volks, das er liebt mit dem seligen Bewußtsein, ihm selber ganz anzugehören. Mit den höchsten Geistern in Israel preist er Gott dafür, daß er in Jerusalem die Stadt des große» Königs, im Tempel das Heiligtum seiner Anbetung, in dem Volke selbst das Salz der Erde, das Licht der Welt, den Träger der höchsten Aufgabe für alle Menschen habe, selbst diesem Volke mit Leib und Leben angehöre und für die Erfüllung seiner Aufgabe ganz und gar bestimmt sei." Die volle Konsequenz dieser Auffassung von Jesu würde erfordern, daß der Heiland auch — abgesehen natürlich von den Punkten, wo das Gegenteil ansdrücklich bezeugt wird — durchaus die Weltanschauung seiner Zeit geteilt und deshalb auch Vorstellungen gehegt habe, die dem modernen Menschen als falsch erscheinen müssen. Ob Ziegler diese Konsequenz in vollem Umfange ge¬ zogen hat, ist nicht ganz klar, da er sich nicht darüber ausspricht, ob nach seiner Meinung Jesus die „damalige Zeitvorstellung" (S. 72) von der Existenz böser Geister und ihres Obersten Beelzebub bloß unwidersprochen gelassen oder auch selbst geteilt hat; doch ist er wenigstens insofern völlig konsequent, als er die auf der alttestamentlichen Offenbarung beruhende Gottesvorstellung des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/563>, abgerufen am 27.04.2024.