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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Ungebildeten, Gedruckten, Kranken, Irrsinnigen, Armen, der Sklaven, der alten
Weiber, der feigen Männer, im ganzen aller derer, welche Grund zum Selbstmord
gehabt hätten, aber den Mut dazu nicht hatten." Was kann es fanatischeres und
dabei handgreiflich unwahreres geben? Besonders interessant ist es, daß er den
Christen auch die Irrsinnigen zuweist; wenn alle die Leute, die Nietzsche lesen,
statt dessen das Neue Testament zu lesen anfingen, würden die Besitzer von Nerven¬
heilanstalten ein schönes Stück Geld einbüßen. Die Vorrede schließt mit der wirklich
nützlichen Mahnung: "Nachdem ich so viel und dazu nicht das Erbaulichste von
mir gesagt habe, darf ich wenigstens hoffen, damit erreicht zu haben, daß meine
neusten Gedanken, welche ich im vorliegenden Buche Morgenröte^ mitteile, nicht
ohne Vorsicht gelesen werden." Diese seine Hoffnung hat sich leider nicht er¬
füllt; seine Jünger lesen ihn nicht mit kritischer Vorsicht, sondern wie den Bringer
einer unfehlbaren Offenbarung, was zugleich beweist, daß sie die für eine solche
Lektüre Ungeeignetsten sind: Unreife und Halbgebildete. Merkwürdigerweise -- oder
auch nicht merkwürdigerweise, denn man müßte sich vielmehr wundern, wenn nicht
auch dieses Selbstbekenntnis und diese Mahnung zur Vorsicht an einer andern
Stelle wieder aufgehoben würden -- macht er dann wieder ausdrücklich Anspruch
darauf, als eine Autorität angesehen zu werde", die über der Kritik steht. Seite 215
des 12. Bandes sagt er: "Meine Gedanke" betreffen zu hohe und ferne Dinge,
sie könnten nur wirken, wenn der stärkste persönliche Druck hinzukäme. Vielleicht
wird der Glaube an meine Autorität erst durch Jahrhunderte so stark, um die
Menschen zu vermögen, ohne Beschämung das Buch dieser Autorität ses scheint die
Fröhliche Wissenschaft gemeint zu seins so streng und ernst zu interpretieren wie
einen alten Klassiker (z. B. Aristoteles)." Daß er gerade den Aristoteles ein¬
klammert, ist besonders hübsch. -- Wir fürchten nicht, durch diese Bemerkungen
dem Absatz der beiden Bände zu schaden und uns dadurch des Undanks gegen die
Spender schuldig zu machen; auf die Gläubigen der Nietzschekirche üben die Grenz-
boten keinen Einfluß, und außerhalb dieser dürften sich kaum Käufer finden.


<L. I-




Zur Beachtung Mit dein nächsten Hefte beginnt diese Zeitschrift das 4. Vierteljahr ihres <w. Jahr¬
ganges. Sir ist durch alle Buchhandlungen und Postanstalten des In- und Auslandes zu
beziehen. Preis für das Vierteljahr !> Mark. Wir bitten, dir Bestellung schleunig zu
erneuern. Unsre Freunde und Keser bitten wir, sich die Verbreitung der Wrenzboten
angelegen sein zu lassen. Leipzig" im September 1!"ol Die Verlagshandlung




Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig -- Druck vo" Carl Marqunrt in Leipzig
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Ungebildeten, Gedruckten, Kranken, Irrsinnigen, Armen, der Sklaven, der alten
Weiber, der feigen Männer, im ganzen aller derer, welche Grund zum Selbstmord
gehabt hätten, aber den Mut dazu nicht hatten." Was kann es fanatischeres und
dabei handgreiflich unwahreres geben? Besonders interessant ist es, daß er den
Christen auch die Irrsinnigen zuweist; wenn alle die Leute, die Nietzsche lesen,
statt dessen das Neue Testament zu lesen anfingen, würden die Besitzer von Nerven¬
heilanstalten ein schönes Stück Geld einbüßen. Die Vorrede schließt mit der wirklich
nützlichen Mahnung: „Nachdem ich so viel und dazu nicht das Erbaulichste von
mir gesagt habe, darf ich wenigstens hoffen, damit erreicht zu haben, daß meine
neusten Gedanken, welche ich im vorliegenden Buche Morgenröte^ mitteile, nicht
ohne Vorsicht gelesen werden." Diese seine Hoffnung hat sich leider nicht er¬
füllt; seine Jünger lesen ihn nicht mit kritischer Vorsicht, sondern wie den Bringer
einer unfehlbaren Offenbarung, was zugleich beweist, daß sie die für eine solche
Lektüre Ungeeignetsten sind: Unreife und Halbgebildete. Merkwürdigerweise — oder
auch nicht merkwürdigerweise, denn man müßte sich vielmehr wundern, wenn nicht
auch dieses Selbstbekenntnis und diese Mahnung zur Vorsicht an einer andern
Stelle wieder aufgehoben würden — macht er dann wieder ausdrücklich Anspruch
darauf, als eine Autorität angesehen zu werde», die über der Kritik steht. Seite 215
des 12. Bandes sagt er: „Meine Gedanke» betreffen zu hohe und ferne Dinge,
sie könnten nur wirken, wenn der stärkste persönliche Druck hinzukäme. Vielleicht
wird der Glaube an meine Autorität erst durch Jahrhunderte so stark, um die
Menschen zu vermögen, ohne Beschämung das Buch dieser Autorität ses scheint die
Fröhliche Wissenschaft gemeint zu seins so streng und ernst zu interpretieren wie
einen alten Klassiker (z. B. Aristoteles)." Daß er gerade den Aristoteles ein¬
klammert, ist besonders hübsch. — Wir fürchten nicht, durch diese Bemerkungen
dem Absatz der beiden Bände zu schaden und uns dadurch des Undanks gegen die
Spender schuldig zu machen; auf die Gläubigen der Nietzschekirche üben die Grenz-
boten keinen Einfluß, und außerhalb dieser dürften sich kaum Käufer finden.


<L. I-




Zur Beachtung Mit dein nächsten Hefte beginnt diese Zeitschrift das 4. Vierteljahr ihres <w. Jahr¬
ganges. Sir ist durch alle Buchhandlungen und Postanstalten des In- und Auslandes zu
beziehen. Preis für das Vierteljahr !> Mark. Wir bitten, dir Bestellung schleunig zu
erneuern. Unsre Freunde und Keser bitten wir, sich die Verbreitung der Wrenzboten
angelegen sein zu lassen. Leipzig» im September 1!»ol Die Verlagshandlung




Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck vo» Carl Marqunrt in Leipzig
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[0644] Maßgebliches und Unmaßgebliches Ungebildeten, Gedruckten, Kranken, Irrsinnigen, Armen, der Sklaven, der alten Weiber, der feigen Männer, im ganzen aller derer, welche Grund zum Selbstmord gehabt hätten, aber den Mut dazu nicht hatten." Was kann es fanatischeres und dabei handgreiflich unwahreres geben? Besonders interessant ist es, daß er den Christen auch die Irrsinnigen zuweist; wenn alle die Leute, die Nietzsche lesen, statt dessen das Neue Testament zu lesen anfingen, würden die Besitzer von Nerven¬ heilanstalten ein schönes Stück Geld einbüßen. Die Vorrede schließt mit der wirklich nützlichen Mahnung: „Nachdem ich so viel und dazu nicht das Erbaulichste von mir gesagt habe, darf ich wenigstens hoffen, damit erreicht zu haben, daß meine neusten Gedanken, welche ich im vorliegenden Buche Morgenröte^ mitteile, nicht ohne Vorsicht gelesen werden." Diese seine Hoffnung hat sich leider nicht er¬ füllt; seine Jünger lesen ihn nicht mit kritischer Vorsicht, sondern wie den Bringer einer unfehlbaren Offenbarung, was zugleich beweist, daß sie die für eine solche Lektüre Ungeeignetsten sind: Unreife und Halbgebildete. Merkwürdigerweise — oder auch nicht merkwürdigerweise, denn man müßte sich vielmehr wundern, wenn nicht auch dieses Selbstbekenntnis und diese Mahnung zur Vorsicht an einer andern Stelle wieder aufgehoben würden — macht er dann wieder ausdrücklich Anspruch darauf, als eine Autorität angesehen zu werde», die über der Kritik steht. Seite 215 des 12. Bandes sagt er: „Meine Gedanke» betreffen zu hohe und ferne Dinge, sie könnten nur wirken, wenn der stärkste persönliche Druck hinzukäme. Vielleicht wird der Glaube an meine Autorität erst durch Jahrhunderte so stark, um die Menschen zu vermögen, ohne Beschämung das Buch dieser Autorität ses scheint die Fröhliche Wissenschaft gemeint zu seins so streng und ernst zu interpretieren wie einen alten Klassiker (z. B. Aristoteles)." Daß er gerade den Aristoteles ein¬ klammert, ist besonders hübsch. — Wir fürchten nicht, durch diese Bemerkungen dem Absatz der beiden Bände zu schaden und uns dadurch des Undanks gegen die Spender schuldig zu machen; auf die Gläubigen der Nietzschekirche üben die Grenz- boten keinen Einfluß, und außerhalb dieser dürften sich kaum Käufer finden. <L. I- Zur Beachtung Mit dein nächsten Hefte beginnt diese Zeitschrift das 4. Vierteljahr ihres <w. Jahr¬ ganges. Sir ist durch alle Buchhandlungen und Postanstalten des In- und Auslandes zu beziehen. Preis für das Vierteljahr !> Mark. Wir bitten, dir Bestellung schleunig zu erneuern. Unsre Freunde und Keser bitten wir, sich die Verbreitung der Wrenzboten angelegen sein zu lassen. Leipzig» im September 1!»ol Die Verlagshandlung Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck vo» Carl Marqunrt in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/644>, abgerufen am 27.04.2024.