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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Ul^r das Armikmvürsichonmgsgcsctz

Wenig Ausleerungen hat, und zu viel oder zu wenig schreit, so treibt sie ihre
Angst oder ihre Dummheit zum Arzt, und der Arzt muß springen und kann
nicht einmal grob sein; denn es ist ja möglich, daß sie wirklich solche Angst
hat. Es ist mir schon passiert, daß ich in der Nacht zwei Stunden weit über
Land fahren mußte, in ein Dorf, in das ich mindestens einen Tag um den
andern fuhr, und wo ich eben denselben Abend noch gewesen war, zu einem Kinde,
das seit drei Tagen einen leichten Sommerdnrchfall ohne alle Gefahren hatte.
Ein Schullehrer, ein Pastor, auch ein Gutsbesitzer würde sich dreimal besinnen,
ehe er in solchem Falle den Arzt holen ließe, denn das kostet 10 Mark, aber
ein Arbeiter, der an manchen Orten nicht einmal den Wagen zu bezahlen
braucht, besinnt sich keinen Allgenblick. Unterdessen verblutet vielleicht im
Nachbardorf eine Gebärende, weil der Arzt nicht zu finden war.

Nun wären ja diese Ärztenöte wirklich nicht der Rede wert, wenn das
Volk einen entsprechenden Vorteil davon hätte. Aber bei den Kinderkrank¬
heiten in den niedern Stünden ist dieser Vorteil allzu gering. Was ein Arzt
den Kindern Gutes thun kann, und wenn er monatelang jeden Tag kommt,
das ist noch nicht der hundertste Teil von dein, was eine aufmerksame
Mutter ihrem Kinde in den Zeiten der Krankheit und der Gesundheit anthut.
Hat aber eine Arbeiterfrau erst einmal den Glauben gewonnen, daß für die
Krankheiten der Arzt mit seinen Mediziner auszukommen habe, so ist das Kind
sicherlich verloren; sie folgt nur aufmerksam dem Rat des Arztes, den sie selbst
mit ihren Ersparnissen bezahlt. Es gilt auch von keinem Zweige der Kranken¬
versicherung mehr als voll diesem, daß wenn wirkliche Not da ist, man sich
nicht an den vorgeschriebnen Arzt wendet, vielmehr sucht sich die Mutter den
Arzt ihres Vertrauens aus. Der kommt vielleicht nur dreimal, wo der andre
sechsmal kommen mußte, um nicht nachlässig zu erscheinen, aber um so auf¬
merksamer wird sein Rat befolgt, und um so besser ist die Pflege der Mutter.
Die Krankenkassen sollten für Kinderkrankheiten nur in den Fällen etwas geben,
wo das Kind der KrnnkenlMlspflege bedarf, und auch da mir die Hälfte
der Kosten lind die andre Hälfte nur leihen. Eltern, die nicht einmal für
die gewöhnlichen Kinderkrankheiten etwas Geld übrig haben, deren Kinder find
überhaupt schlimm daran, mit und ohne Arzt.

^, Der Segen der Versicherungsgesetze

Vielleicht sind dem Leser angesichts dieser Darstellung der Fehler der
Zwangsversicheruilg Zweifel gekommen an ihrem wirklichen Wert. Es wäre
ihm damit nur ebenso gegangen, wie dein, der an der täglichen Ausführung
des Gesetzes mitarbeitet. Er muß sich immer "nieder auf den großen Segen,
den das Gesetz ausstreut, besinnen, wenn er diesen Fehlern gegenüber nicht
unmutig werden soll. Die Versicherungsgesetze sind sehr viel wert. Aber ich
"kochte eine Stufenleiter ihres Wertes aufstellen. Das Nnfallversicherungs-
gesetz steht mir am höchsten, denn der Schaden durch Betriebsunfall muß wirklich


Ul^r das Armikmvürsichonmgsgcsctz

Wenig Ausleerungen hat, und zu viel oder zu wenig schreit, so treibt sie ihre
Angst oder ihre Dummheit zum Arzt, und der Arzt muß springen und kann
nicht einmal grob sein; denn es ist ja möglich, daß sie wirklich solche Angst
hat. Es ist mir schon passiert, daß ich in der Nacht zwei Stunden weit über
Land fahren mußte, in ein Dorf, in das ich mindestens einen Tag um den
andern fuhr, und wo ich eben denselben Abend noch gewesen war, zu einem Kinde,
das seit drei Tagen einen leichten Sommerdnrchfall ohne alle Gefahren hatte.
Ein Schullehrer, ein Pastor, auch ein Gutsbesitzer würde sich dreimal besinnen,
ehe er in solchem Falle den Arzt holen ließe, denn das kostet 10 Mark, aber
ein Arbeiter, der an manchen Orten nicht einmal den Wagen zu bezahlen
braucht, besinnt sich keinen Allgenblick. Unterdessen verblutet vielleicht im
Nachbardorf eine Gebärende, weil der Arzt nicht zu finden war.

Nun wären ja diese Ärztenöte wirklich nicht der Rede wert, wenn das
Volk einen entsprechenden Vorteil davon hätte. Aber bei den Kinderkrank¬
heiten in den niedern Stünden ist dieser Vorteil allzu gering. Was ein Arzt
den Kindern Gutes thun kann, und wenn er monatelang jeden Tag kommt,
das ist noch nicht der hundertste Teil von dein, was eine aufmerksame
Mutter ihrem Kinde in den Zeiten der Krankheit und der Gesundheit anthut.
Hat aber eine Arbeiterfrau erst einmal den Glauben gewonnen, daß für die
Krankheiten der Arzt mit seinen Mediziner auszukommen habe, so ist das Kind
sicherlich verloren; sie folgt nur aufmerksam dem Rat des Arztes, den sie selbst
mit ihren Ersparnissen bezahlt. Es gilt auch von keinem Zweige der Kranken¬
versicherung mehr als voll diesem, daß wenn wirkliche Not da ist, man sich
nicht an den vorgeschriebnen Arzt wendet, vielmehr sucht sich die Mutter den
Arzt ihres Vertrauens aus. Der kommt vielleicht nur dreimal, wo der andre
sechsmal kommen mußte, um nicht nachlässig zu erscheinen, aber um so auf¬
merksamer wird sein Rat befolgt, und um so besser ist die Pflege der Mutter.
Die Krankenkassen sollten für Kinderkrankheiten nur in den Fällen etwas geben,
wo das Kind der KrnnkenlMlspflege bedarf, und auch da mir die Hälfte
der Kosten lind die andre Hälfte nur leihen. Eltern, die nicht einmal für
die gewöhnlichen Kinderkrankheiten etwas Geld übrig haben, deren Kinder find
überhaupt schlimm daran, mit und ohne Arzt.

^, Der Segen der Versicherungsgesetze

Vielleicht sind dem Leser angesichts dieser Darstellung der Fehler der
Zwangsversicheruilg Zweifel gekommen an ihrem wirklichen Wert. Es wäre
ihm damit nur ebenso gegangen, wie dein, der an der täglichen Ausführung
des Gesetzes mitarbeitet. Er muß sich immer »nieder auf den großen Segen,
den das Gesetz ausstreut, besinnen, wenn er diesen Fehlern gegenüber nicht
unmutig werden soll. Die Versicherungsgesetze sind sehr viel wert. Aber ich
»kochte eine Stufenleiter ihres Wertes aufstellen. Das Nnfallversicherungs-
gesetz steht mir am höchsten, denn der Schaden durch Betriebsunfall muß wirklich


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[0341] Ul^r das Armikmvürsichonmgsgcsctz Wenig Ausleerungen hat, und zu viel oder zu wenig schreit, so treibt sie ihre Angst oder ihre Dummheit zum Arzt, und der Arzt muß springen und kann nicht einmal grob sein; denn es ist ja möglich, daß sie wirklich solche Angst hat. Es ist mir schon passiert, daß ich in der Nacht zwei Stunden weit über Land fahren mußte, in ein Dorf, in das ich mindestens einen Tag um den andern fuhr, und wo ich eben denselben Abend noch gewesen war, zu einem Kinde, das seit drei Tagen einen leichten Sommerdnrchfall ohne alle Gefahren hatte. Ein Schullehrer, ein Pastor, auch ein Gutsbesitzer würde sich dreimal besinnen, ehe er in solchem Falle den Arzt holen ließe, denn das kostet 10 Mark, aber ein Arbeiter, der an manchen Orten nicht einmal den Wagen zu bezahlen braucht, besinnt sich keinen Allgenblick. Unterdessen verblutet vielleicht im Nachbardorf eine Gebärende, weil der Arzt nicht zu finden war. Nun wären ja diese Ärztenöte wirklich nicht der Rede wert, wenn das Volk einen entsprechenden Vorteil davon hätte. Aber bei den Kinderkrank¬ heiten in den niedern Stünden ist dieser Vorteil allzu gering. Was ein Arzt den Kindern Gutes thun kann, und wenn er monatelang jeden Tag kommt, das ist noch nicht der hundertste Teil von dein, was eine aufmerksame Mutter ihrem Kinde in den Zeiten der Krankheit und der Gesundheit anthut. Hat aber eine Arbeiterfrau erst einmal den Glauben gewonnen, daß für die Krankheiten der Arzt mit seinen Mediziner auszukommen habe, so ist das Kind sicherlich verloren; sie folgt nur aufmerksam dem Rat des Arztes, den sie selbst mit ihren Ersparnissen bezahlt. Es gilt auch von keinem Zweige der Kranken¬ versicherung mehr als voll diesem, daß wenn wirkliche Not da ist, man sich nicht an den vorgeschriebnen Arzt wendet, vielmehr sucht sich die Mutter den Arzt ihres Vertrauens aus. Der kommt vielleicht nur dreimal, wo der andre sechsmal kommen mußte, um nicht nachlässig zu erscheinen, aber um so auf¬ merksamer wird sein Rat befolgt, und um so besser ist die Pflege der Mutter. Die Krankenkassen sollten für Kinderkrankheiten nur in den Fällen etwas geben, wo das Kind der KrnnkenlMlspflege bedarf, und auch da mir die Hälfte der Kosten lind die andre Hälfte nur leihen. Eltern, die nicht einmal für die gewöhnlichen Kinderkrankheiten etwas Geld übrig haben, deren Kinder find überhaupt schlimm daran, mit und ohne Arzt. ^, Der Segen der Versicherungsgesetze Vielleicht sind dem Leser angesichts dieser Darstellung der Fehler der Zwangsversicheruilg Zweifel gekommen an ihrem wirklichen Wert. Es wäre ihm damit nur ebenso gegangen, wie dein, der an der täglichen Ausführung des Gesetzes mitarbeitet. Er muß sich immer »nieder auf den großen Segen, den das Gesetz ausstreut, besinnen, wenn er diesen Fehlern gegenüber nicht unmutig werden soll. Die Versicherungsgesetze sind sehr viel wert. Aber ich »kochte eine Stufenleiter ihres Wertes aufstellen. Das Nnfallversicherungs- gesetz steht mir am höchsten, denn der Schaden durch Betriebsunfall muß wirklich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/341>, abgerufen am 03.05.2024.