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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Über das Rrlinkenversichernugsgesetz

sollen sie von ihren Kindem erleiden, was sie selbst gesündigt habeli. In
solche Gottesgerichte braucht man nicht hineinzupfuschen. Die wenigen alten
Männlein und Weiblein, die ganz allein stehn und ganz arm sind, die sind
auch bisher versorgt worden. Es braucht nicht ein ganzes Volk wöchentlich
zu kleben, damit ihnen das werde, was die Nächstenliebe ihnen schuldig ist.


5. Der Reformvorschlag der Regierung

Es ist aus Regierungskreiseu ein Aufsatz hervorgegangen, der den Plan
zur Verbesserung der Krankenversicherung ausführlich darlegt und sozusagen
zur Diskussion stellt.

Hierin wird als erster Grund zur Veränderung der Wunsch hingestellt,
die empfindliche Lücke auszufüllen, die zwischen der Fürsorge durch die Kranken¬
kassen und der dnrch die Jnvalidenanstalten klafft. Bis jetzt erhält die Mehr¬
zahl der Kranken ihr Krankengeld, Arzthilfe und Arznei nur dreizehn Wochen
laug, es sei denn, daß die Kasse beschlossen hat, längere Zeit zu helfen, was
nur bei reichen Ortskraukenkassen und Betriebskraickenknssen der Fall ist und
auch den Vorzug der freien Hilfskassen ausmacht. Dauert die Krankheit länger,
so muß der Kranke sich selbst versorgen; kann er das nicht, so tritt die Armen-
Pflege für ihn ein. Bis vor kurzem bekam er eine Invalidenrente erst, wenn er
länger krank war als el" Jahr. Nachdem das Jnvaliditätsversicherungsgesetz
geändert worden ist, beginnt das Recht ans Invalidenrente schon sechsund¬
zwanzig Wochen nach dem Beginn der Erwerbsunfähigkeit. Es bleibt also
nur ein Zeitraum von dreizehn Wochen, worin der Kranke hilflos ist, es sei
denn, daß die Armenpflege sich seiner annimmt, oder daß die Jnvalidenanstalt
von ihrem Recht der Krankenfürsorge zur Verhütung größern Schadens Ge¬
brauch macht, was bisher doch immer nur vereinzelt geschehn ist.

Wäre es nur der Schönheitssinn der Gesetze bauenden Phantasie, der die
Beseitigung dieser "häßlichen Lücke" verlangte, so erschiene mir dieses Ver¬
langen ungenügend begründet. Denn ohne Zweifel hat diese Lücke auch ihr
Gutes. Wir Ärzte begrüßen es in vielen Fällen als einen Segen, daß bei
ein und derselben Krankheit die Uuterstützungsrechte einmal ein Ende erreichen
(bei einer neuen Erkrankung beginnen die Rechte wieder von vorn); Gott sei
Dank, nun endlich wird der Mensch doch dnrch die Not gezwungen, mit seiner
Krankheit fertig zu werden, so denkt man manchmal. Als das Recht auf
Invalidenrente erst ein Jahr uach der Erkrankung begann, hatte der Anwärter
eine ziemlich lange Wartezeit durchzumachen. Hierdurch wurde eine Menge
von Leuten ausgesiebt, die in dieser Zeit körperlich und seelisch wieder so weit
zu Kräften kamen, daß sie nicht mehr als invalide gelten konnten. Von nun
um aber sollen alle Unterstütz"ngsrechte, die jemand aus einer Krankheit be¬
ansprucht, ohne Ende sein. Sechsundzwnnzig Wochen soll die Kasse bezahlen



") Regierungsrat Hossmon", Die Abänderung des Krantenvcrsichernngsgesetzes. Preu-
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Über das Rrlinkenversichernugsgesetz

sollen sie von ihren Kindem erleiden, was sie selbst gesündigt habeli. In
solche Gottesgerichte braucht man nicht hineinzupfuschen. Die wenigen alten
Männlein und Weiblein, die ganz allein stehn und ganz arm sind, die sind
auch bisher versorgt worden. Es braucht nicht ein ganzes Volk wöchentlich
zu kleben, damit ihnen das werde, was die Nächstenliebe ihnen schuldig ist.


5. Der Reformvorschlag der Regierung

Es ist aus Regierungskreiseu ein Aufsatz hervorgegangen, der den Plan
zur Verbesserung der Krankenversicherung ausführlich darlegt und sozusagen
zur Diskussion stellt.

Hierin wird als erster Grund zur Veränderung der Wunsch hingestellt,
die empfindliche Lücke auszufüllen, die zwischen der Fürsorge durch die Kranken¬
kassen und der dnrch die Jnvalidenanstalten klafft. Bis jetzt erhält die Mehr¬
zahl der Kranken ihr Krankengeld, Arzthilfe und Arznei nur dreizehn Wochen
laug, es sei denn, daß die Kasse beschlossen hat, längere Zeit zu helfen, was
nur bei reichen Ortskraukenkassen und Betriebskraickenknssen der Fall ist und
auch den Vorzug der freien Hilfskassen ausmacht. Dauert die Krankheit länger,
so muß der Kranke sich selbst versorgen; kann er das nicht, so tritt die Armen-
Pflege für ihn ein. Bis vor kurzem bekam er eine Invalidenrente erst, wenn er
länger krank war als el» Jahr. Nachdem das Jnvaliditätsversicherungsgesetz
geändert worden ist, beginnt das Recht ans Invalidenrente schon sechsund¬
zwanzig Wochen nach dem Beginn der Erwerbsunfähigkeit. Es bleibt also
nur ein Zeitraum von dreizehn Wochen, worin der Kranke hilflos ist, es sei
denn, daß die Armenpflege sich seiner annimmt, oder daß die Jnvalidenanstalt
von ihrem Recht der Krankenfürsorge zur Verhütung größern Schadens Ge¬
brauch macht, was bisher doch immer nur vereinzelt geschehn ist.

Wäre es nur der Schönheitssinn der Gesetze bauenden Phantasie, der die
Beseitigung dieser „häßlichen Lücke" verlangte, so erschiene mir dieses Ver¬
langen ungenügend begründet. Denn ohne Zweifel hat diese Lücke auch ihr
Gutes. Wir Ärzte begrüßen es in vielen Fällen als einen Segen, daß bei
ein und derselben Krankheit die Uuterstützungsrechte einmal ein Ende erreichen
(bei einer neuen Erkrankung beginnen die Rechte wieder von vorn); Gott sei
Dank, nun endlich wird der Mensch doch dnrch die Not gezwungen, mit seiner
Krankheit fertig zu werden, so denkt man manchmal. Als das Recht auf
Invalidenrente erst ein Jahr uach der Erkrankung begann, hatte der Anwärter
eine ziemlich lange Wartezeit durchzumachen. Hierdurch wurde eine Menge
von Leuten ausgesiebt, die in dieser Zeit körperlich und seelisch wieder so weit
zu Kräften kamen, daß sie nicht mehr als invalide gelten konnten. Von nun
um aber sollen alle Unterstütz»ngsrechte, die jemand aus einer Krankheit be¬
ansprucht, ohne Ende sein. Sechsundzwnnzig Wochen soll die Kasse bezahlen



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[0343] Über das Rrlinkenversichernugsgesetz sollen sie von ihren Kindem erleiden, was sie selbst gesündigt habeli. In solche Gottesgerichte braucht man nicht hineinzupfuschen. Die wenigen alten Männlein und Weiblein, die ganz allein stehn und ganz arm sind, die sind auch bisher versorgt worden. Es braucht nicht ein ganzes Volk wöchentlich zu kleben, damit ihnen das werde, was die Nächstenliebe ihnen schuldig ist. 5. Der Reformvorschlag der Regierung Es ist aus Regierungskreiseu ein Aufsatz hervorgegangen, der den Plan zur Verbesserung der Krankenversicherung ausführlich darlegt und sozusagen zur Diskussion stellt. Hierin wird als erster Grund zur Veränderung der Wunsch hingestellt, die empfindliche Lücke auszufüllen, die zwischen der Fürsorge durch die Kranken¬ kassen und der dnrch die Jnvalidenanstalten klafft. Bis jetzt erhält die Mehr¬ zahl der Kranken ihr Krankengeld, Arzthilfe und Arznei nur dreizehn Wochen laug, es sei denn, daß die Kasse beschlossen hat, längere Zeit zu helfen, was nur bei reichen Ortskraukenkassen und Betriebskraickenknssen der Fall ist und auch den Vorzug der freien Hilfskassen ausmacht. Dauert die Krankheit länger, so muß der Kranke sich selbst versorgen; kann er das nicht, so tritt die Armen- Pflege für ihn ein. Bis vor kurzem bekam er eine Invalidenrente erst, wenn er länger krank war als el» Jahr. Nachdem das Jnvaliditätsversicherungsgesetz geändert worden ist, beginnt das Recht ans Invalidenrente schon sechsund¬ zwanzig Wochen nach dem Beginn der Erwerbsunfähigkeit. Es bleibt also nur ein Zeitraum von dreizehn Wochen, worin der Kranke hilflos ist, es sei denn, daß die Armenpflege sich seiner annimmt, oder daß die Jnvalidenanstalt von ihrem Recht der Krankenfürsorge zur Verhütung größern Schadens Ge¬ brauch macht, was bisher doch immer nur vereinzelt geschehn ist. Wäre es nur der Schönheitssinn der Gesetze bauenden Phantasie, der die Beseitigung dieser „häßlichen Lücke" verlangte, so erschiene mir dieses Ver¬ langen ungenügend begründet. Denn ohne Zweifel hat diese Lücke auch ihr Gutes. Wir Ärzte begrüßen es in vielen Fällen als einen Segen, daß bei ein und derselben Krankheit die Uuterstützungsrechte einmal ein Ende erreichen (bei einer neuen Erkrankung beginnen die Rechte wieder von vorn); Gott sei Dank, nun endlich wird der Mensch doch dnrch die Not gezwungen, mit seiner Krankheit fertig zu werden, so denkt man manchmal. Als das Recht auf Invalidenrente erst ein Jahr uach der Erkrankung begann, hatte der Anwärter eine ziemlich lange Wartezeit durchzumachen. Hierdurch wurde eine Menge von Leuten ausgesiebt, die in dieser Zeit körperlich und seelisch wieder so weit zu Kräften kamen, daß sie nicht mehr als invalide gelten konnten. Von nun um aber sollen alle Unterstütz»ngsrechte, die jemand aus einer Krankheit be¬ ansprucht, ohne Ende sein. Sechsundzwnnzig Wochen soll die Kasse bezahlen «) Regierungsrat Hossmon», Die Abänderung des Krantenvcrsichernngsgesetzes. Preu- snscheS Vcrwnltlmgsblntt, 21. April 1!>W,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/343>, abgerufen am 03.05.2024.