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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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LMeiwntum und Christentum

Seine Seele war fein genug gestimmt, daß sie den tiefen Zwiespalt fühlte, der
sich zwischen den in der Höhe liegenden Wegen der großen Politik und den
Niederungen des private" Lebens durchzieht, Oder meint ihr, daß sie nicht
zart genug war. aus sich selbst den bittern Schmerz zu empfinden, daß er in
der Höhe nicht handeln durfte wie in der Tiefe? Bismarck hat mit gutem
Grunde sein letztes Werk Geburten und Erinnerungen genannt. Erinnerungen
daran und Gedanken darüber, daß das Leben des Staatsmanns nicht ihn:
selber, sondern seinein Volke gehört, und daß von diesem Fundmnentalsatze aus
Gesetz und Pflichten ganz anders werden als die. nach denen sich das Leben
in seinen persönlichen Beziehungen regeln soll.

Ein Buch voll des ergreifendsten Inhalts, Das Herz will dem Fürsten
brechen, weil gerade die, die ihm am nächsten stehn, das Gebot der Not¬
wendigkeit, uuter dem er steht, nicht anerkennen wollen, und seine Seele will
vergeh", daß er seinen Herrn zwingen muß, zu thun, was zum Nutzen des
Ganzen unabweisbar ist. Im Gastmahl des Plato ist uns die Klage eines
großen Atheners erhalten, der es beweint, daß er den von Sokrntes ihm vor-
geschriebnen Pfad der Tugend habe verlassen müssen, da er durch des Philo¬
sophen und Freundes Lehre gehindert sei, die Angelegenheiten der Athener zu
betreiben. Gut, daß es ihm wie dem Fürsten Bismarck von einem Gott ge¬
geben war, zu sagen, was er litt. Es ist der einzige Ausweg, den die Heroen
der Politik vor sich sehen, aus dem furchtbaren Dilemma herauszukommen:
die Generalbeichte, die sie ins Ohr der Menschheit hauchen, damit sie Abso¬
lution von ihr erhalten. Die Herreumoral Nietzsches, die sie darüber hinaus
heben soll, ist ein Unding, nud wer es nichtsdestoweniger versucht, sie als
Gesetz in die Welt einzuführen, schleudert wie die Titanen Felsblöcke, die zer¬
malmend ans deu eignen Leib zurückfall Arnold.solle en.




Hellenentum und Christentum
2. Die nachhomerische Religion
(Schluß)

n den Gebieten, auf deuen die doppelte Wirkung des Kultur¬
fortschritts bei gleichzeitiger Zunahme der Volksdichtigkcit sehr
auffällig hervorzutreten pflegt, gehört auch das geschlechtliche und
das Familienleben. Einerseits drängt bei den Gebildeten die
Verfeinerung jede gröbere Auffassung des Geschlechtsverkehrs
zurück und verbirgt sie wenigstens, wo sie sie nicht zu überwinden vermag,
und die Liebe treibt zarte Gcmütsblüten hervor, von denen ein Teil die Ge¬
stalt lyrischer Gedichte annimmt. Andrerseits wird die Festigkeit des Ehe-
bundes von außen und von innen erschüttert, indem der im Denken geübte


LMeiwntum und Christentum

Seine Seele war fein genug gestimmt, daß sie den tiefen Zwiespalt fühlte, der
sich zwischen den in der Höhe liegenden Wegen der großen Politik und den
Niederungen des private» Lebens durchzieht, Oder meint ihr, daß sie nicht
zart genug war. aus sich selbst den bittern Schmerz zu empfinden, daß er in
der Höhe nicht handeln durfte wie in der Tiefe? Bismarck hat mit gutem
Grunde sein letztes Werk Geburten und Erinnerungen genannt. Erinnerungen
daran und Gedanken darüber, daß das Leben des Staatsmanns nicht ihn:
selber, sondern seinein Volke gehört, und daß von diesem Fundmnentalsatze aus
Gesetz und Pflichten ganz anders werden als die. nach denen sich das Leben
in seinen persönlichen Beziehungen regeln soll.

Ein Buch voll des ergreifendsten Inhalts, Das Herz will dem Fürsten
brechen, weil gerade die, die ihm am nächsten stehn, das Gebot der Not¬
wendigkeit, uuter dem er steht, nicht anerkennen wollen, und seine Seele will
vergeh», daß er seinen Herrn zwingen muß, zu thun, was zum Nutzen des
Ganzen unabweisbar ist. Im Gastmahl des Plato ist uns die Klage eines
großen Atheners erhalten, der es beweint, daß er den von Sokrntes ihm vor-
geschriebnen Pfad der Tugend habe verlassen müssen, da er durch des Philo¬
sophen und Freundes Lehre gehindert sei, die Angelegenheiten der Athener zu
betreiben. Gut, daß es ihm wie dem Fürsten Bismarck von einem Gott ge¬
geben war, zu sagen, was er litt. Es ist der einzige Ausweg, den die Heroen
der Politik vor sich sehen, aus dem furchtbaren Dilemma herauszukommen:
die Generalbeichte, die sie ins Ohr der Menschheit hauchen, damit sie Abso¬
lution von ihr erhalten. Die Herreumoral Nietzsches, die sie darüber hinaus
heben soll, ist ein Unding, nud wer es nichtsdestoweniger versucht, sie als
Gesetz in die Welt einzuführen, schleudert wie die Titanen Felsblöcke, die zer¬
malmend ans deu eignen Leib zurückfall Arnold.solle en.




Hellenentum und Christentum
2. Die nachhomerische Religion
(Schluß)

n den Gebieten, auf deuen die doppelte Wirkung des Kultur¬
fortschritts bei gleichzeitiger Zunahme der Volksdichtigkcit sehr
auffällig hervorzutreten pflegt, gehört auch das geschlechtliche und
das Familienleben. Einerseits drängt bei den Gebildeten die
Verfeinerung jede gröbere Auffassung des Geschlechtsverkehrs
zurück und verbirgt sie wenigstens, wo sie sie nicht zu überwinden vermag,
und die Liebe treibt zarte Gcmütsblüten hervor, von denen ein Teil die Ge¬
stalt lyrischer Gedichte annimmt. Andrerseits wird die Festigkeit des Ehe-
bundes von außen und von innen erschüttert, indem der im Denken geübte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/587>, abgerufen am 03.05.2024.