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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Historische Versäumnisse

i
n hervorragender Germanist, der noch aus der Schule der Ge¬
brüder Grimm stammte, behauptete gelegentlich, halb im Scherz,
halb im Ernst, der schlimmste Gegner der Deutschen sei Cäsar
genesen, da er 58 v. Chr. den Äriovist mit seinen Suchen ver¬
hindert habe, Gallien zu erobern, waS ohne sein Dnzwischeu-
treten sicher geschehn wäre lind die Grenzen der Germanen bis ein den Kanal
und den Atlantische,: Ozean ausgedehnt, sie also in eine viel günstigere geo¬
graphische Lage als ihre heutige gebracht hätte, wühreud in den Ebnen
ostwärts von der Elbe ein großes Slawenreich Hütte entstehn mögen; die
größte Thorheit aber hüllen die Markomannen begnügen, als sie wühreud der
Avlkerwaudrnng Böhmen rüumteu, uach dem jetzigen Bayern abzogen und
somit Böhmen den Tschechen überließen, denn dadurch sei das natürliche Herz-
land Deutschlands, seine Hochburg, von der aus sich ein gesamtdeutsches Staats-
wesen am ehesten Hütte gründen und behaupten lassen, für immer an ein fremdes
Volk verloren gegange", und das Zusammenwachsen der deutschen Stämme zu
einer Nation, zu einem Reiche aufs äußerste erschwert worden. In der That
hat kein großes europäisches Volk eine so merkwürdige und tiefgreifende Ver-
schiebung seiner Sitze erfahren als das deutsche, und daß diese die Reichs-
bilduug vielfach gehemmt hat, liegt auf der Hand.

Diese für unsre ganze Geschichte grundlegende, oft zu wenig beachtete
Thatsache läßt sich jetzt an der Hand eines großen Kartenwerks, worin der
kürzlich verstorbne russische Generalleutnant Rvderich vou Erkert die Ergebnisse
der neuen Forschung sozusagen bildlich dargestellt hat,deutlich und mühelos
verfolgen; es ist nur zu bedauern, daß der Tod den Verfasser verhindert hat,
auch noch den beabsichtigten begründenden Textband hiuzuzuschreiben, es sind
aber jeder Karte kurze erklärende Bemerkungen beigefügt. Die erste Karte giebt
den Zustand des jetzigen Deutschlands nach dein Ende der letzten Eiszeit mit



Wandrungen und Siedlungen der germanischen Stämme in Mitteleuropa von der ältesten
Zuk bis aus Karl den Großen, aus zivöls Karten dargestellt (mit einem Vorwort von Johannes
Ranke), Berlin, E, S, Mittler und Sohn, 1Ä01, Folio.
Grenzboten 1 1902 Is


Historische Versäumnisse

i
n hervorragender Germanist, der noch aus der Schule der Ge¬
brüder Grimm stammte, behauptete gelegentlich, halb im Scherz,
halb im Ernst, der schlimmste Gegner der Deutschen sei Cäsar
genesen, da er 58 v. Chr. den Äriovist mit seinen Suchen ver¬
hindert habe, Gallien zu erobern, waS ohne sein Dnzwischeu-
treten sicher geschehn wäre lind die Grenzen der Germanen bis ein den Kanal
und den Atlantische,: Ozean ausgedehnt, sie also in eine viel günstigere geo¬
graphische Lage als ihre heutige gebracht hätte, wühreud in den Ebnen
ostwärts von der Elbe ein großes Slawenreich Hütte entstehn mögen; die
größte Thorheit aber hüllen die Markomannen begnügen, als sie wühreud der
Avlkerwaudrnng Böhmen rüumteu, uach dem jetzigen Bayern abzogen und
somit Böhmen den Tschechen überließen, denn dadurch sei das natürliche Herz-
land Deutschlands, seine Hochburg, von der aus sich ein gesamtdeutsches Staats-
wesen am ehesten Hütte gründen und behaupten lassen, für immer an ein fremdes
Volk verloren gegange», und das Zusammenwachsen der deutschen Stämme zu
einer Nation, zu einem Reiche aufs äußerste erschwert worden. In der That
hat kein großes europäisches Volk eine so merkwürdige und tiefgreifende Ver-
schiebung seiner Sitze erfahren als das deutsche, und daß diese die Reichs-
bilduug vielfach gehemmt hat, liegt auf der Hand.

Diese für unsre ganze Geschichte grundlegende, oft zu wenig beachtete
Thatsache läßt sich jetzt an der Hand eines großen Kartenwerks, worin der
kürzlich verstorbne russische Generalleutnant Rvderich vou Erkert die Ergebnisse
der neuen Forschung sozusagen bildlich dargestellt hat,deutlich und mühelos
verfolgen; es ist nur zu bedauern, daß der Tod den Verfasser verhindert hat,
auch noch den beabsichtigten begründenden Textband hiuzuzuschreiben, es sind
aber jeder Karte kurze erklärende Bemerkungen beigefügt. Die erste Karte giebt
den Zustand des jetzigen Deutschlands nach dein Ende der letzten Eiszeit mit



Wandrungen und Siedlungen der germanischen Stämme in Mitteleuropa von der ältesten
Zuk bis aus Karl den Großen, aus zivöls Karten dargestellt (mit einem Vorwort von Johannes
Ranke), Berlin, E, S, Mittler und Sohn, 1Ä01, Folio.
Grenzboten 1 1902 Is
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[0121] [Abbildung] Historische Versäumnisse i n hervorragender Germanist, der noch aus der Schule der Ge¬ brüder Grimm stammte, behauptete gelegentlich, halb im Scherz, halb im Ernst, der schlimmste Gegner der Deutschen sei Cäsar genesen, da er 58 v. Chr. den Äriovist mit seinen Suchen ver¬ hindert habe, Gallien zu erobern, waS ohne sein Dnzwischeu- treten sicher geschehn wäre lind die Grenzen der Germanen bis ein den Kanal und den Atlantische,: Ozean ausgedehnt, sie also in eine viel günstigere geo¬ graphische Lage als ihre heutige gebracht hätte, wühreud in den Ebnen ostwärts von der Elbe ein großes Slawenreich Hütte entstehn mögen; die größte Thorheit aber hüllen die Markomannen begnügen, als sie wühreud der Avlkerwaudrnng Böhmen rüumteu, uach dem jetzigen Bayern abzogen und somit Böhmen den Tschechen überließen, denn dadurch sei das natürliche Herz- land Deutschlands, seine Hochburg, von der aus sich ein gesamtdeutsches Staats- wesen am ehesten Hütte gründen und behaupten lassen, für immer an ein fremdes Volk verloren gegange», und das Zusammenwachsen der deutschen Stämme zu einer Nation, zu einem Reiche aufs äußerste erschwert worden. In der That hat kein großes europäisches Volk eine so merkwürdige und tiefgreifende Ver- schiebung seiner Sitze erfahren als das deutsche, und daß diese die Reichs- bilduug vielfach gehemmt hat, liegt auf der Hand. Diese für unsre ganze Geschichte grundlegende, oft zu wenig beachtete Thatsache läßt sich jetzt an der Hand eines großen Kartenwerks, worin der kürzlich verstorbne russische Generalleutnant Rvderich vou Erkert die Ergebnisse der neuen Forschung sozusagen bildlich dargestellt hat,deutlich und mühelos verfolgen; es ist nur zu bedauern, daß der Tod den Verfasser verhindert hat, auch noch den beabsichtigten begründenden Textband hiuzuzuschreiben, es sind aber jeder Karte kurze erklärende Bemerkungen beigefügt. Die erste Karte giebt den Zustand des jetzigen Deutschlands nach dein Ende der letzten Eiszeit mit Wandrungen und Siedlungen der germanischen Stämme in Mitteleuropa von der ältesten Zuk bis aus Karl den Großen, aus zivöls Karten dargestellt (mit einem Vorwort von Johannes Ranke), Berlin, E, S, Mittler und Sohn, 1Ä01, Folio. Grenzboten 1 1902 Is

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/121>, abgerufen am 29.04.2024.