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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

in sehr Vielen Drogueulndeu die Gesetze täglich verletzt werden, Trotz der amtlichen
Revisionen, bei denen ja immer wieder eine Menge verbotner Sachen gefunden
werden, geschieht das fast öffentlich und uuter dem unwahren Vorwande der größer"
Billigkeit.

Diese wildeu Apotheken werden erst dann aufhören, wenn strenge Strafen auf
die Abgabe unerlaubter Arzneimittel gesetzt werden, die den Herren die Lust ver¬
leiden, damit Geschäfte zu machen. Geldbußen nicht unter 500 Mark, bei Wieder¬
holung Gefängnisstrafe, sonst ist diesen Freibeutern nicht beizukommen. Dann erst
Wird das Volk geschützt sein vor solchen Vorkommnissen.


Montnignes Essais.

Ein Mann von vornehmer Geburt und bevorzugter
Lebensstellung, wie viele als Schriftsteller berühmt gewordne Franzosen, dabei höchst
sorgfältig und eigentümlich erzogen: als kleines Kind spricht er so fertig lateinisch,
daß angesehene Humanisten, die in dem väterlichen Hause Verkehren, es darin nicht
mit ihm aufnehmen mögen. Auf dem Gymnasium seiner Provinz büßt er das
wieder ein, aber die leichte und schnelle Belesenheit, der Zugang zu den Fund¬
stätten der römischen Spruchweisheit mit ihren Hunderten von Beispielen, die auf
moderne Zustände passen können, war ihm doch mir so möglich geworden. Als
Edelmann, Soldat und Richter hatte er andres zu thun als Lesen, und auch später,
als er ganz seinen Neigungen lebte und viel auf Reisen war, hatte er nichts von
den Gewohnheiten eines Litteraten. Seit zwanzig Jahren habe er auf ein einzelnes
Buch nicht eine volle Stunde auf einmal verwandt, bemerkt er bei einer Gelegenheit,
wo er erzählt, jetzt habe er auf die Empfehlung eines angesehenen Edelmannes den
ganzen Tacitus ohne Unterbrechung durchgenommen. Neben Tacitus sagt ihm be¬
sonders der jüngere Seueca zu wegen seiner pointierter Antithesen, und außerdem
liest er gern Plutarch in Amyvts Übersetzung, zwei Bücher, die auch Rousseau
liebte, dessen französisches Liebliugsbuch aber diese Essais vou Montaigne waren.
Der Romantiker mit der verfeinerten Empfindung für jeden lebendigen Ausdruck
reicht über die Periode der Klassiker hinweg einem verfrühten Genossen die Hand,
einem frischen Beobachter, der sich höchst persönlich ausdrückt, der zwar kein Dichter
ist, kein Gefühlsmensch von einer reichen, bunten Phantasie, sondern im Gegenteil
eine kühle, berechnende Seele, aber seine Worte, so korrekt sie gefügt und gefeilt
sind, haben etwas von der Wärme des menschlichen Atems, und sie treffen manchmal
so scharf und unmittelbar auf ihren Gegenstand, daß mau alle dabei aufgewandte
Kunst vergessen kann. Montaigne schreibt nicht als Schriftsteller von Beruf ein
zusammenhängendes Werk, souderu als gebildeter Weltmann mit der Freiheit der
Stvffwcchl einzelne Aufsätze, die er Essais nennt, um sich nicht zur Erfüllung der
höchsten Ansprüche zu verpflichten, er fühlt sich, wie er sagt, nirgends mehr im
Dunkel als in der Schätzung seiner eignen Schriftstellerei, er stellt sie bald hoch
bald niedrig, in stetem Wechsel und Zweifel, aber seine ganz auf Kritik gestimmte
Art der Äußerung und sein überlegner Ton verraten uns, daß er sich mir zu wohl
bewußt ist, zum Ausdruck seiner Gedanken eine mustergiltige Form gefunden zu
haben, und diese allein hat ihm seineu Platz in der Litteratur gegeben. Sie ist
von äußerster Klarheit, sie läßt uns bis auf den Grund scheu, aber dieser ist nicht
sehr tief, und sachlich enthalten die Essais nicht mehr und nicht weniger als kluge
und meistens auch angenehme moralisierende Betrachtungen über Frage" und änßere
Verhältnisse des menschliche" Lebens, und außerdem noch einzelne kulturgeschichtlich
merkwürdige Neisenotizeu, die ja bekanntlich um diese Zeit schon ihrer Seltenheit
wegen vou Wert sind. Nimmt man jenen ersten ihre französische Einkleidung, so
verlieren sie nicht bloß an Reiz, sondern oftmals anch an Schärfe, und dann er¬
scheinen sie noch weniger tief, flacher mit einem Worte, und das beweist wohl, daß
das Geistreiche bei Montaigne in der epigrammatischen Zuspitzung liegt, und daß
sein litterarisches Verdienst aus dem Gebiete der Sprache zu suchen ist, die er leistungs¬
fähiger für deu Gedankenausdruck gemacht hat. Darum wird er jedem, der für


Maßgebliches und Unmaßgebliches

in sehr Vielen Drogueulndeu die Gesetze täglich verletzt werden, Trotz der amtlichen
Revisionen, bei denen ja immer wieder eine Menge verbotner Sachen gefunden
werden, geschieht das fast öffentlich und uuter dem unwahren Vorwande der größer»
Billigkeit.

Diese wildeu Apotheken werden erst dann aufhören, wenn strenge Strafen auf
die Abgabe unerlaubter Arzneimittel gesetzt werden, die den Herren die Lust ver¬
leiden, damit Geschäfte zu machen. Geldbußen nicht unter 500 Mark, bei Wieder¬
holung Gefängnisstrafe, sonst ist diesen Freibeutern nicht beizukommen. Dann erst
Wird das Volk geschützt sein vor solchen Vorkommnissen.


Montnignes Essais.

Ein Mann von vornehmer Geburt und bevorzugter
Lebensstellung, wie viele als Schriftsteller berühmt gewordne Franzosen, dabei höchst
sorgfältig und eigentümlich erzogen: als kleines Kind spricht er so fertig lateinisch,
daß angesehene Humanisten, die in dem väterlichen Hause Verkehren, es darin nicht
mit ihm aufnehmen mögen. Auf dem Gymnasium seiner Provinz büßt er das
wieder ein, aber die leichte und schnelle Belesenheit, der Zugang zu den Fund¬
stätten der römischen Spruchweisheit mit ihren Hunderten von Beispielen, die auf
moderne Zustände passen können, war ihm doch mir so möglich geworden. Als
Edelmann, Soldat und Richter hatte er andres zu thun als Lesen, und auch später,
als er ganz seinen Neigungen lebte und viel auf Reisen war, hatte er nichts von
den Gewohnheiten eines Litteraten. Seit zwanzig Jahren habe er auf ein einzelnes
Buch nicht eine volle Stunde auf einmal verwandt, bemerkt er bei einer Gelegenheit,
wo er erzählt, jetzt habe er auf die Empfehlung eines angesehenen Edelmannes den
ganzen Tacitus ohne Unterbrechung durchgenommen. Neben Tacitus sagt ihm be¬
sonders der jüngere Seueca zu wegen seiner pointierter Antithesen, und außerdem
liest er gern Plutarch in Amyvts Übersetzung, zwei Bücher, die auch Rousseau
liebte, dessen französisches Liebliugsbuch aber diese Essais vou Montaigne waren.
Der Romantiker mit der verfeinerten Empfindung für jeden lebendigen Ausdruck
reicht über die Periode der Klassiker hinweg einem verfrühten Genossen die Hand,
einem frischen Beobachter, der sich höchst persönlich ausdrückt, der zwar kein Dichter
ist, kein Gefühlsmensch von einer reichen, bunten Phantasie, sondern im Gegenteil
eine kühle, berechnende Seele, aber seine Worte, so korrekt sie gefügt und gefeilt
sind, haben etwas von der Wärme des menschlichen Atems, und sie treffen manchmal
so scharf und unmittelbar auf ihren Gegenstand, daß mau alle dabei aufgewandte
Kunst vergessen kann. Montaigne schreibt nicht als Schriftsteller von Beruf ein
zusammenhängendes Werk, souderu als gebildeter Weltmann mit der Freiheit der
Stvffwcchl einzelne Aufsätze, die er Essais nennt, um sich nicht zur Erfüllung der
höchsten Ansprüche zu verpflichten, er fühlt sich, wie er sagt, nirgends mehr im
Dunkel als in der Schätzung seiner eignen Schriftstellerei, er stellt sie bald hoch
bald niedrig, in stetem Wechsel und Zweifel, aber seine ganz auf Kritik gestimmte
Art der Äußerung und sein überlegner Ton verraten uns, daß er sich mir zu wohl
bewußt ist, zum Ausdruck seiner Gedanken eine mustergiltige Form gefunden zu
haben, und diese allein hat ihm seineu Platz in der Litteratur gegeben. Sie ist
von äußerster Klarheit, sie läßt uns bis auf den Grund scheu, aber dieser ist nicht
sehr tief, und sachlich enthalten die Essais nicht mehr und nicht weniger als kluge
und meistens auch angenehme moralisierende Betrachtungen über Frage» und änßere
Verhältnisse des menschliche» Lebens, und außerdem noch einzelne kulturgeschichtlich
merkwürdige Neisenotizeu, die ja bekanntlich um diese Zeit schon ihrer Seltenheit
wegen vou Wert sind. Nimmt man jenen ersten ihre französische Einkleidung, so
verlieren sie nicht bloß an Reiz, sondern oftmals anch an Schärfe, und dann er¬
scheinen sie noch weniger tief, flacher mit einem Worte, und das beweist wohl, daß
das Geistreiche bei Montaigne in der epigrammatischen Zuspitzung liegt, und daß
sein litterarisches Verdienst aus dem Gebiete der Sprache zu suchen ist, die er leistungs¬
fähiger für deu Gedankenausdruck gemacht hat. Darum wird er jedem, der für


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[0398] Maßgebliches und Unmaßgebliches in sehr Vielen Drogueulndeu die Gesetze täglich verletzt werden, Trotz der amtlichen Revisionen, bei denen ja immer wieder eine Menge verbotner Sachen gefunden werden, geschieht das fast öffentlich und uuter dem unwahren Vorwande der größer» Billigkeit. Diese wildeu Apotheken werden erst dann aufhören, wenn strenge Strafen auf die Abgabe unerlaubter Arzneimittel gesetzt werden, die den Herren die Lust ver¬ leiden, damit Geschäfte zu machen. Geldbußen nicht unter 500 Mark, bei Wieder¬ holung Gefängnisstrafe, sonst ist diesen Freibeutern nicht beizukommen. Dann erst Wird das Volk geschützt sein vor solchen Vorkommnissen. Montnignes Essais. Ein Mann von vornehmer Geburt und bevorzugter Lebensstellung, wie viele als Schriftsteller berühmt gewordne Franzosen, dabei höchst sorgfältig und eigentümlich erzogen: als kleines Kind spricht er so fertig lateinisch, daß angesehene Humanisten, die in dem väterlichen Hause Verkehren, es darin nicht mit ihm aufnehmen mögen. Auf dem Gymnasium seiner Provinz büßt er das wieder ein, aber die leichte und schnelle Belesenheit, der Zugang zu den Fund¬ stätten der römischen Spruchweisheit mit ihren Hunderten von Beispielen, die auf moderne Zustände passen können, war ihm doch mir so möglich geworden. Als Edelmann, Soldat und Richter hatte er andres zu thun als Lesen, und auch später, als er ganz seinen Neigungen lebte und viel auf Reisen war, hatte er nichts von den Gewohnheiten eines Litteraten. Seit zwanzig Jahren habe er auf ein einzelnes Buch nicht eine volle Stunde auf einmal verwandt, bemerkt er bei einer Gelegenheit, wo er erzählt, jetzt habe er auf die Empfehlung eines angesehenen Edelmannes den ganzen Tacitus ohne Unterbrechung durchgenommen. Neben Tacitus sagt ihm be¬ sonders der jüngere Seueca zu wegen seiner pointierter Antithesen, und außerdem liest er gern Plutarch in Amyvts Übersetzung, zwei Bücher, die auch Rousseau liebte, dessen französisches Liebliugsbuch aber diese Essais vou Montaigne waren. Der Romantiker mit der verfeinerten Empfindung für jeden lebendigen Ausdruck reicht über die Periode der Klassiker hinweg einem verfrühten Genossen die Hand, einem frischen Beobachter, der sich höchst persönlich ausdrückt, der zwar kein Dichter ist, kein Gefühlsmensch von einer reichen, bunten Phantasie, sondern im Gegenteil eine kühle, berechnende Seele, aber seine Worte, so korrekt sie gefügt und gefeilt sind, haben etwas von der Wärme des menschlichen Atems, und sie treffen manchmal so scharf und unmittelbar auf ihren Gegenstand, daß mau alle dabei aufgewandte Kunst vergessen kann. Montaigne schreibt nicht als Schriftsteller von Beruf ein zusammenhängendes Werk, souderu als gebildeter Weltmann mit der Freiheit der Stvffwcchl einzelne Aufsätze, die er Essais nennt, um sich nicht zur Erfüllung der höchsten Ansprüche zu verpflichten, er fühlt sich, wie er sagt, nirgends mehr im Dunkel als in der Schätzung seiner eignen Schriftstellerei, er stellt sie bald hoch bald niedrig, in stetem Wechsel und Zweifel, aber seine ganz auf Kritik gestimmte Art der Äußerung und sein überlegner Ton verraten uns, daß er sich mir zu wohl bewußt ist, zum Ausdruck seiner Gedanken eine mustergiltige Form gefunden zu haben, und diese allein hat ihm seineu Platz in der Litteratur gegeben. Sie ist von äußerster Klarheit, sie läßt uns bis auf den Grund scheu, aber dieser ist nicht sehr tief, und sachlich enthalten die Essais nicht mehr und nicht weniger als kluge und meistens auch angenehme moralisierende Betrachtungen über Frage» und änßere Verhältnisse des menschliche» Lebens, und außerdem noch einzelne kulturgeschichtlich merkwürdige Neisenotizeu, die ja bekanntlich um diese Zeit schon ihrer Seltenheit wegen vou Wert sind. Nimmt man jenen ersten ihre französische Einkleidung, so verlieren sie nicht bloß an Reiz, sondern oftmals anch an Schärfe, und dann er¬ scheinen sie noch weniger tief, flacher mit einem Worte, und das beweist wohl, daß das Geistreiche bei Montaigne in der epigrammatischen Zuspitzung liegt, und daß sein litterarisches Verdienst aus dem Gebiete der Sprache zu suchen ist, die er leistungs¬ fähiger für deu Gedankenausdruck gemacht hat. Darum wird er jedem, der für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/398>, abgerufen am 29.04.2024.